Junji Ito – Sensor
Junji Ito – Sensor

Junji Ito – Sensor

Die unendlichen Weiten

Content Warning/Inhaltswarnung: Suizid, Tod, Blut, seelische Gewalt, körperliche Gewalt, Gore, Body Horror

Die junge Kyoko Byakuya wandert in den Bergen. Sie weiß nicht genau, was sie an diesen Ort gelockt hat, erfreut sich aber an den golden leuchtenden Pele-Haaren, die der nahe Vulkan Sengoku ausgespuckt hat. Plötzlich spricht ein ihr fremder Mann sie an. Er behauptet, auf sie gewartet zu haben, kennt ihren Namen und führt Byakuya in sein Heimatdorf Kiyokamimura. Bei der Dorfversammlung wird Byakuya erklärt, was es mit den Haaren auf sich hat: Vor mehr als 200 Jahren hat sich der Missionar Miguel für das Dorf geopfert. Seitdem spuckt der Sengoku kein Feuer mehr, sondern nur noch goldene Glückseligkeit. Byakuya lässt sich dazu überreden, zumindest für die Sternenschau zu bleiben. Anfangs ist sie auch verzaubert von dem Naturschauspiel. Der ganze Himmel färbt sich golden, alle Anwesenden werden in Richtung Himmel gesaugt und freuen sich schon, mit Miguel vereinigt zu werden. Doch in den Tiefen der Galaxie lauert nicht derjenige, den sie anbeten. Stattdessen verschwindet das Gold in einem tiefschwarzen Sog, dessen schwarze Haare die Bewohner verschlingen. Nur Byakuya überlebt, die in einem Kokon aus dem goldenen Haar von dem kosmischen Horror bewahrt wurde.

„Tatsächlich war mein ursprüngliches Konzept vage und ungenügend durchdacht“, so beschreibt Junji Ito selbst sein Buch Sensor. Dass er nicht damit scheuen muss, auch mal recht hart mit sich selbst ins Gericht zu gehen, dafür sorgt mit Sicherheit sein Ruf. Für alle, die Ito gar nicht kennen: Sein Status in Japan und darüber hinaus in Graphic Novel-Kreisen ist astronomisch hoch. Wenn euch schon Mal ein Manga-Panel mit den Worten „Schau dir das mal an, es ist das Verstörendste, was ich je gesehen hab“ gezeigt wurde, dann war es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus einem von Itos Werken. 

Der Charme des Junji Ito

Das komplette Buch ist sehr vignettenhaft aufgebaut. Wir erleben die Handlung nicht aus der Perspektive von Byakuya, sondern aus der des Reporters Wataru Tsuchiyado, der von einer seltsamen Wolke zum Sengoku gelockt wird und so in das größere Chaos hineingerät. Die Handlung soll als eine Art Reisebericht daherkommen, verkommt dadurch aber viel mehr zu einer Kapitelstruktur, bei der man permanent aufs Neue mit Exposition bombardiert wird. Für kosmischen Horror ist es nicht untypisch, dass dieser nicht zu viel darüber verraten will, was wirklich vorgeht, immerhin ist die Essenz der ursprünglichen Lovecraft-Idee, dass dermenschlichen Geist bis zum Wahnsinn überfordert wird. Aber die meisten Kapitel enttäuschen, weil kein Charakter die Chance bekommt sich zu entwickeln. Body Horror, die große Stärke von Ito, kommt quasi nicht vor. Die für ihn typischen unerwarteten Wendungen sind hier so bizarr, dass es teilweise eher so wirkt, als würde sich jemand über seinen üblichen Stil lustig machen. 

Ein Lichtblick bleibt aber die Kunst. Die Brillanz von Ito, die Leser*innen mit nur wenigen Panels zum Zittern zu bringen, blitzt in Sensor nur stellenweise auf, aber die wenigen Höhepunkte haben mich dann doch versöhnt zurückgelassen. Vor allem der Weltraum und seine unendlichen Weiten sind so gut dargestellt, dass das eine Kapitel, in dem er einen menschlichen Körper bis zur völligen Entstellung verformen kann, für mich sehr positiv hervorstach. Außerdem haben die anfangs erwähnten goldenen Haare eine nur schwer erklärbare zauberhafte Aura. Visuell funktioniert der Manga also über weite Strecken, aber ob das reicht, um über die schwache Handlung und noch schwächeren Charakter hinwegzutrösten, muss jeder selbst wissen.

von Felix Ritzmann

Junji Ito
Sensor
Aus dem Japanischen von Jens Ossa
Carlsen 2022
242 Seiten
18 Euro

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