„Es hatte sie aufgewühlt, diesen Brief zu lesen. Wie ein Gruß ihrer Mutter aus dem Jenseits.“
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Content Warning/Inhaltswarnung: Antisemitismus, Krieg, Krebs, Sucht, Tod
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„Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ – so wird das verschwundene Gemälde des gleichnamigen Generationenromans von Alena Schröder beschrieben, das die düstere Vergangenheit eines Familiengefüges ans Licht bringt. Die promovierende Hannah verliert sich in ihrer Orientierungslosigkeit und einer Affäre mit ihrem Doktorvater Andreas Sonthausen, allein die Besuche bei ihrer Großmutter Evelyn im Altenheim strukturieren ihren Alltag. Doch ein Brief aus Israel bringt eine Wendung in Hannahs Leben: Ihre Oma erhält als Erbin jüdischer Vorfahren einen Anspruch auf ein Restitutionsverfahren wegen eines wertvollen Kunstwerks von Jan Vermeer, das als Raubkunst zur Zeit des Nationalsozialismus verschwunden ist. Doch Evelyn verschließt sich vor der Vergangenheit, sodass Hannah derGeschichte ihrer Familie auf den Grund geht. Zeitgleich entführt das Buch die Lesenden in die 1920er Jahre, in denen Evelyns leibliche Mutter unkonventionelle Entscheidungen trifft, zerrissen zwischen familiären Erwartungen und eigenen Träumen. Die Geschichte zeigt den generationenübergreifenden Schmerz auf, der ungeahnt auf den Schultern der Frauen aus Hannahs Familie lastet – und verborgene Narben in ihrem eigenen Leben hinterlassen hat.Doch wird Evelyn ihrer Enkelin die Geheimnisse ihrer Vergangenheit offenbaren, die sie verschlossen im Herzen trägt?
„Was für ein Glück sie hatte, dachte Senta matt. Und wie unglücklich sie war.“
Die Autorin schreibt flüssig und direkt, sodass die Seiten beim Lesen nur so dahinfliegen. Daneben ist die Thematik rund um die dunklen Geheimnisse von Hannahs Familiengefügeund die Aufarbeitung nationalsozialistischen Kunstraubs fesselnd und höchst relevant. Im Vordergrund stehen stets Frauen und Mütter, an die Erwartungen herangetragen werden, ohneüber genügend Raum für Selbstentfaltung zu verfügen. Diese Reflexion über Mutterschaftskonflikte und Weiblichkeitskonzepte zeichnet die Stärke des Buches aus.Allerdings liegt der Schwerpunkt des Buches zu sehr auf der Affäre zwischen Hannah und Andreas, wodurch die Suche nach dem Kunstwerk im Handlungsverlauf zu kurz kommt. Die Charaktere sind insgesamt recht passiv und lassen sich mehr oder weniger widerwillig von den Ereignissen mitziehen. Vor allem Hannah bleibt angesichts der Entdeckungen ihrer Wurzeln und des geraubten Gemäldes etwas leidenschaftslos. Zudem übt das Buch viel Kritik an den Schattenseiten des akademischen Betriebs aus, die teils plakativ ausfällt und negative Stereotype der Geisteswissenschaften bedient. Manche Situationen wirken etwas überzogen, beispielsweise als Hannah und ihre Anwältin versuchen, in Kostümierung die Erbin einer Schokoladenfabrik zu Aussagen über eine firmeninterne Kunstsammlung zu bewegen. Das Buch verspricht letztendlich mehr, als es erfüllen kann. Der Roman greift zwar viele spannende Themen auf, doch kratzt dabei leider nur an der Oberfläche – nichtsdestotrotz inspiriert die Geschichte zum Dialog über die nationalsozialistische Vergangenheit und zündethier und da Gedankenfunken, die es sich zu verfolgen lohnt.
von Elisa-Maria Kuhn
Alena Schröder
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
dtv 2021
368 Seiten
22 Euro