Frances Cha – Hätte ich dein Gesicht
Frances Cha – Hätte ich dein Gesicht

Frances Cha – Hätte ich dein Gesicht

Vier Stimmen aus Seoul

Content Warning/Inhaltswarnung: Suizid, Gewalt

Wir befinden uns in der Weltmetropole Seoul, der Hauptstadt Südkoreas. Der Stadtteil Gangnam ist hier der wohlhabendste und glamouröseste Bezirk. Und zwischen den Hochhäusern, Bars und Restaurants steht da in Gangnam ein sogenanntes Officetel, bewohnt u.a. von vier Frauen: der stummen Ara (mit ihrer Mitbewohnerin Sujin), dem Room-Salon-Girl Kyuri, der Kunststipendiatin Miho und der unglücklich verheirateten Wonna. Frances Cha fixiert diese vier Frauen in Hätte ich dein Gesicht unter ihrem Brennglas, nimmt die Lesenden mit in die Gedanken, Gefühle, Träume und Erinnerungen aller Protagonistinnen und schafft mit diesem prall gefüllten Mikrokosmos ein Abbild einer konsumkranken Gesellschaft. 

Die Bewohnerinnen könnten unterschiedlicher nicht sein. Miho, Ara und Sujin sind zusammen im Waisenhaus großgeworden, Kyuri hat sich vom Rotlichtviertel in einen angesehenen Room-Salon hochgearbeitet und Wonna ist (unglücklich) verheiratet und geht einem mittelmäßig gutem Bürojob nach. Was die Frauen jedoch eint, ist ihre soziale Herkunft. Keine von ihnen kommt aus einer reichen Familie, manche sogar aus extrem ärmlichen Verhältnissen. Sie haben es in ein schickes Viertel geschafft und verkehren zum Teil in der dort heimischen Schicht, so richtig dazugehören tun sie jedoch nicht. Ihre Wahrnehmung auf die Privilegierten wird auch zur Wahrnehmung der Lesenden und verschiebt das Bild des Außenseiters: nicht die hart arbeitenden, aufstrebenden Frauen sind hier außen vor, sondern die Reichen und Schönen, die als arrogant, skrupellos und kaltherzig beschrieben werden – und sich meist auch genauso verhalten.

„Reiche Leute sind von Glück fasziniert. […] Es macht sie rasend.“

Die Liste der Themen, die Cha anschlägt, ist lang und reicht von K-Pop über Streitigkeiten in der Familie bis hin zu Gewalt, Suizid und die Kinderlosigkeit der südkoreanischen Bevölkerung. Aus den Ereignissen, Erinnerungen und Gedanken der Frauen setzt sich ein Puzzle zusammen, das schließlich das Bild einer Gesellschaft formt. Beim Lesen taucht man nicht nur in das südkoreanische Großstadtleben ein, sondern auch in das einer High Society, die sich auf viele Kulturen übertragen lässt. Geld kann es da nie genug geben. Der Status und das positive Bild nach Außen müssen unter allen Umständen gewahrt werden. Vor allem Frauen, aber auch männliche Stars, sind hier von Natur aus nicht ‚schön‘ genug und müssen sich Operationen unterziehen. Makelloses Aussehen bedeutet gleichermaßen Chancen auf einen besseren Job oder auf eine Heirat in eine gut gestellte Familie. Aussehen ist einer der großen ‚enabler‘ sozialen Aufstiegs. Der Neid auf diejenigen, die sich diesen Schönheitswahn finanziell leisten können, ist dementsprechend groß:

„Du hast so viel, und du kannst machen, was du willst. Ich würde dein Leben so viel besser leben als du, hätte ich dein Gesicht.“

Spannend wird es immer dann, wenn auch Ara, Miho, Wonna und Kyuri sich in diese High Society einfügen wollen. Mal gelingt dies besser, mal schlechter. Resilient sind die Frauen allerdings extrem. Sie rappeln sich nach Rückschlägen auf und intrigieren mindestens genauso gut wie die Reichen.

Da jedes Kapitel aus der Sicht einer anderen erzählt wird, fühlt man sich beim Lesen sehr in die Figuren ein. Eine Beschreibung von außen durch eine der Frauen kann komplett widerlegt werden, sobald die Beschriebene sich zu Wort meldet und ihren eigentlichen Charakter offenbart. Cha ist ein wirklich einprägsamer, nuancenreicher und vielstimmiger Roman gelungen, der durch die Figuren und deren Reflektionen angetrieben wird, nicht etwa durch den Plot. Wer viel Handlung erwartet, wird enttäuscht werden. Wer jedoch Lust hat, sich in das Innenleben der vier Charaktere zu begeben, kann sich auf eine Reise voller neuer Eindrücke freuen, die mitfühlen und mithoffen lassen. Die Geschichten von Miho, Ara, Kyuri und Wonna sind nicht nur empowernd für Frauen oder soziale Aufsteiger*innen, sondern für alle, die gerade auf der Suche nach ihrem eigenen Weg sind.

von Theresa Werheid

Frances Cha
Hätte ich dein Gesicht
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
Unionsverlag 2022
288 Seiten
23 Euro

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