Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein
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Content Warning: Rassismus
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Mit dem anschwellenden Zirpen von Zikaden, welches wie eine Vorahnung und Drohung die Luft schwängert und das Publikum in den Bann zieht, beginnt die deutsche Uraufführung des Stücks „Appropriate (Was sich gehört)“ von Branden Jacobs-Jenkins, ins Deutsche übersetzt von Christine Richter-Nilsson und Bo Magnus Nilsson.
Der Tod des Patriarchen Ray Lafayette sorgt dafür, dass seine Kinder mit den unterschiedlichsten Motivationen in das Haus ihrer Kindheitssommer zurückkehren, um den Nachlass zu regeln und das Haus samt Grundstück versteigern zu lassen. Das Aufeinandertreffen in der Villa einer ehemaligen Plantage in den Südstaaten der USA bringt Konflikte hervor, die in den Beziehungen der Geschwister schon lange schlummern und nun, katalysiert durch die Konfrontation mit der rassistischen Vergangenheit ihrer Familie, eskalieren.
Dichotomie der Konflikte
Toni, die älteste, frisch geschiedene Tochter, ist bereits seit einer Woche mit ihrem Sohn Rhys vor Ort und versucht das Hab und Gut ihres Vaters zu sortieren, bevor der Verkauf des Hauses ansteht. Bo, ihr Bruder, kommt für die bevorstehende Versteigerung aus New York mit seiner Frau Rachael und ihren gemeinsamen Kindern angereist. Überraschend trifft auch Franz, der jüngste Bruder, mit seiner Verlobten River ein. Allein das sorgt für immenses Streitpotential zwischen den Geschwistern, da Franz zehn Jahre lang den Kontakt verweigert hat und nun, mit einer vermeintlichen Entschuldigung im Gepäck, Frieden schließen will. Alte Wunden werden aufgerissen, Familiengeheimnisse gelüftet, neue Beziehungen auf die Probe gestellt und alte Beziehungen an ihre Grenzen gebracht. Schuldzuweisungen sind omnipräsent. Vorwürfe der Vernachlässigung, unerfüllter Pflichten, mangelnder Dankbarkeit und Wertschätzung prägen die Spannungen zwischen den Geschwistern. Obgleich sich die Fronten verhärten, ist auch eine Vertrautheit zwischen ihnen spürbar, eine emotionale Angreifbarkeit, die lediglich zwischen Personen, die einander viel bedeuten, möglich ist. Die Konfliktlinien lassen sich auf so viele Auseinandersetzungen in Familien übertragen, dass die Möglichkeit zum Identifizieren mit den Geschwistern stets gegeben ist.
„Auf diesem Boden wurde seine Weltsicht geformt“
Southern trees bear a strange fruit,
Blood on the leaves and blood at the root,
Black bodies swinging in the southern breeze,
Strange fruit hanging from the poplar trees.
(Auszug aus Strange Fruit von Abel Meeropol)
Den Höhepunkt des Konflikts löst ein Fotoalbum aus, welches unter den Sachen des Vaters gefunden wird. Bilder, auf denen tote Schwarze zu sehen sind. Außerdem anatomische Artefakte, wie sie nach Lynchmorden als „Souvenirs“ behalten wurden. Weiter, eine Konföderiertenflagge und eine Ku-Klux-Klan-Mütze. Der an den Familienfriedhof auf dem Grundstück angrenzende Friedhof Schwarzer Sklaven. Überhaupt die Plantagen-Villa. Die Beweise für die rassistische Familiengeschichte sind eindeutig. Dennoch geht jede der anwesenden Personen anders damit um. Toni, Papas Liebling, will kein schlechtes Wort auf ihren Vater, den Helden, kommen lassen und versucht sich ignorant an Rechtfertigungen, dass das eine andere Zeit gewesen wäre. Bo gesteht sich nach und nach die rassistische Gesinnung seines Vaters ein, die auch seine Frau, eine Jüdin, subtil erfahren musste. Franz leidet immer noch unter dem Trauma seiner Kindheit durch seinen Vater. Wie ist mit der Vergangenheit umzugehen? Wie mit deren physischen Beweis, insbesondere den Leichenbildern? Die Hässlichkeit des menschlichen Charakters zeigt sich, als klar wird, dass solche Fotografien in „Sammlerkreisen“ als historische Objekte einen hohen Wert einbringen. Die Versuchung besteht für jede*n einzelne*n, so aus den eigenen Geldsorgen zu kommen. Über allem hängt die moralische Diskussion: Was ist angemessen, was gehört sich?
Branden Jacobs-Jenkins gewann für „Appropriate“ den Obie Award für das beste Stück. Dieser Auszeichnung ist nur zuzustimmen und die überaus gelungene Inszenierung der deutschen Version des Stücks unter der Regie von Sibylle Broll-Pape ist eine absolute Empfehlung!
Die nächsten Aufführungen finden am 10., 13., 17., 19., 25., 26. Mai und 10., 14. sowie 17. Juni 2023. Beginn ist jeweils um 19:30 Uhr.
von Michaela Minder