Spionage im Schatten eines drohenden Weltkriegs
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Deutsches Kaiserreich, 1910: Europa steuert unwissend in eine der größten Katastrophen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Gezeichnet von allmählich wachsenden Bestrebungen der militärischen Mobilmachung und dem Wettstreit der großen europäischen Herrschaftshäuser um die Vorherrschaft auf dem Kontinent, ist das Leben zu dieser Zeit auch im Kaiserreich durchzogen von Unsicherheit, steigendem Misstrauen und politischen Ränkespielchen. Hinzu kommt eine geheimnisvolle Reihe von Morden, die länderübergreifend Angst und Terror verbreitet. Beginnend mit einem mysteriösen Zugunglück, bei dem mehrere Menschen ums Leben kommen, nehmen sich Major Albert Craemer und seine Mitarbeiterin Lena Vogel diesem an und sind schon bald etwas Großem auf der Spur. Die scheinbar nicht zusammenhängenden Morde gehören zu einem sich zuspitzenden Komplott inmitten des preußischen Geheimdienstes. Doch wer genau dahintersteckt, bleibt bis zum Ende hin unklar …
Aufrüstung, dunkle Abgründe und ein vielversprechendes Ermittler*innen-Duo
Wittekindts und Wittkamps Fabrik der Schatten ist der Auftakt der Craemer-und-Vogel-Reihe. Das Ermittler*innen-Duo, bestehend aus Major Albert Craemer (Leiter der Abteilung Spionage Frankreich) und seiner Assistentin/Geheimagentin Lena Vogel, bekommt es im ersten Band mit einem mysteriösen Fall zu tun, der es in sich hat. Unterstützt wird die Handlung durch zahlreiche Orts- und auch Zeitsprünge, die zunächst etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen mögen, sich jedoch als eine willkommene Abwechslung in diesem Krimi herausstellen. Die Geschichte ist dynamisch, lässt sich flott lesen und die Leser*innen ebenfalls selbst miträtseln, was das Geheimnis eines erfolgreichen Kriminalromans ist. Durchweg ist der Roman durch eine Vielzahl an imposanten bzw. interessanten Charakteren gezeichnet.
„Erstaunlich, wie sich selbst gestandene Männer durch ein forsches Auftreten und ein amtliches Stück Papier zur Räson bringen lassen. Lass dir das für die Zukunft eine Lehre sein.“
Insbesondere die junge Lena Vogel, eine eher unkonventionelle weibliche Ermittlerin (auch wenn sie genau genommen eher als Assistenzkraft verkauft wird), lässt die Handlung wacher werden, denn weibliche Charaktere, die selbst aktiv werden und einer Berufung in der Kriminalermittlung nachgehen, sind zu dieser Zeit – der Zeit der Belle Epoche – noch selten und viel zu oft gekennzeichnet von Genderstereotypen sowie wenig tiefgründigen Persönlichkeiten. Ihre Lebensgeschichte, die innerhalb des ganzen Buches in mehreren alleinstehenden Kapiteln erzählt und fortgeführt wird, gibt Fräulein Vogels Charakterisierung Tiefe und lässt die Leser*innen leicht mit ihrer persönlichen Geschichte mitfühlen. Als eine Kombination aus Mata Hari und Alice im Wonderland ist Lena Vogel eine gelungene Protagonistin, von der ich persönlich im nächsten Band gerne mehr erfahren und sehen möchte.
Trotz der zahlreichen Orts- und Perspektivwechsel ist dem Roman leicht zu folgen und es verliert sich nie die Spannung. Die Kapitel sind meist kurz, aber keinesfalls lückenhaft oder gar überladen von Informationen auf so wenig Raum. Gebündelt durch interessante Einblicke in die damalige Zeit zwischen Militärgeschichte und außenpolitischen Verknüpfungen zu Frankreich ist Fabrik der Schatten eine angenehme Lektüre für historisch Interessierte und Krimi-Begeisterte und die, die es werden wollen. Wittekindt und Wittkamp pflegen einen angenehmen und sauberen Schreibstil, der die Handlung zunehmend interessant macht durch wirksame Pointen, Wortwitz und authentische Dialoge. Alles in allem ein lesenswerter Kriminalroman, dessen zweiter Band bereits am 14. Juni 2023 erscheint – allerdings ohne Rainer Wittkamps Schreibtalent, da dieser leider im Dezember 2020, kurz vor Fertigstellung des Manuskripts von Fabrik der Schatten, verstarb.
von Kristina Steiner
Matthias Wittekindt, Rainer Wittkamp
Fabrik der Schatten
Heyne 2022
365 Seiten
11,00 Euro