Mythos Thomas Mann
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Zum hundertsten Geburtstag Thomas Manns 1975 veröffentlichte Literaturwissenschaftler und Redakteur Hanjo Kesting eine, wie er es selbst nennt, „rabiate Kritik“. Nun zieht er, mittlerweile „Verehrer“, in seiner Biografie über den großen deutschen Schriftsteller Bilanz. Vor allem revidiert er, korrigiert. Über sein „aufsässige[s] Produkt“ schreibt er heute: „ziemlich unausgegoren, zwar nicht völlig falsch in manchen Beobachtungen, aber voreilig und kurzsichtig in seinen Schlussfolgerungen.“ Kesting hat ein Buch geschrieben, das Thomas Mann nicht glorifiziert, ihm seine Stellung (in der Nachfolge Goethes) in der deutschen (Literatur-)Geschichte aber auch nicht abspricht. Keine Apotheose, dafür wiedergutmachende Selbstreflexion. Sachlich, aber wohlwollend.
Werk und Leben
Buddenbrooks, Der Zauberberg, Joseph und seine Brüder, Lotte in Weimar, Der Erwählte, Die Betrogene – diesen Querschnitt aus Thomas Manns umfangreichem epischen Werk betrachtet Hanjo Kesting eingangs genauer. Er beschreibt die autobiografischen Stilisierungen, die Sublimierung, und verknüpft elegant Zitate aus den Mannschen Tagebüchern und seiner Korrespondenz während der Entstehung der Texte mit einer literarischen Retrospektive. Vor allem für Thomas Manns elaborierten Sprachduktus, an dessen unnachahmliche Perfektion und ausgefeilte Eleganz kaum jemand heranreicht, weiß Kesting respektvolle, ja wertschätzende Worte zu finden. Die Kapitel zu Thomas Manns Verhältnis zur Musik (vor allem zu Richard Wagner), seinem Bruder Heinrich, dem Sohn Klaus und seinen Reisen komplettieren das Bild des Schriftstellers zwar nicht, geben aber trotzdem private Einblicke.
Nicht unkritisch ist Kesting hingegen in seinen beiden großen Kapiteln zu den Tagebüchern, die, wenngleich Thomas Mann ihnen selbst einen geringen literarischen Wert zuschrieb (man darf wohl aber auch hier die berühmte Mannsche Ironie erkennen), nicht im Schatten seiner großen literarischen Werke zu stehen brauchen. Nicht unkritisch vor allem deshalb, weil sich Thomas Mann im Privaten hinreichend dem politischen Zeitgeschehen widmete, dem er sich zuweilen und zum Unbehagen vieler Mitmenschen öffentlich aber entzog. Drei Jahre dauerte es, bis er sich nach der Machtergreifung Hitlers entschieden gegen den deutschen Faschismus stellte. Drei Jahre und wiederholtes Drängen von Ehefrau Katia und den ältesten Kindern Erika und Klaus. Gleichzeitig gesteht Kesting Thomas Mann seine Rolle im Kampf gegen die NS-Herrschaft aber auch zu. Denn: „Nachdem er sich [zur Stellungnahme] durchgerungen hatte, ließ er es an Deutlichkeit nicht mangeln.“ Thomas Mann, der sich schon früh als Repräsentant der deutschen Nation in der Nachfolge Goethes verstand, trat mit Vortrags-Tourneen, Gesprächen mit dem US-Amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt oder Radiobeiträgen, die in das zerbombte Deutschland gesendet wurden, äußerst vehement den Kampf gegen Hitler, den Faschismus, die Diktatur an.
Insofern ist Hanjo Kestings Thomas Mann-Biografie eine kaleidoskopische und thematisch differenzierte Einführung in das Werk und Leben des Nationalschriftstellers. Die essayhaften Kapitel haben genau die richtige Länge, sind vage genug, um Lust zu machen, Thomas Manns Werk selbst zu erkunden, verraten aber auch genügend, um ihn und sein Schreiben besser zu verstehen. Es ist ein gelungenes Buch, das sich viel vorgenommen hat, letztlich aber auch pointiert alle großen Fragen beantwortet. Ein wenig ehrfurchtsvoll bleibt man trotzdem zurück. Er, Thomas Mann, der Autodidakt ohne Schulabschluss, der Exilant mit Ehrendoktorwürden diverser Eliteuniversitäten, der von Selbstzweifeln geplagte deutsche Repräsentant, er weiß immer noch zu faszinieren. In seinem Werk, seinen Tagebüchern, seiner Korrespondenz. Hanjo Kesting hat diese besondere Aura, die Thomas Mann nach wie vor umgibt, stilsicher eingefangen.
von Luisa Bader
Hanjo Kesting
Thomas Mann – Glanz und Qual
Wallstein 2023
400 Seiten
28,00 Euro