ETA Hoffmann Theater – Das Vermächtnis (The Inheritance). Teil 1
ETA Hoffmann Theater – Das Vermächtnis (The Inheritance). Teil 1

ETA Hoffmann Theater – Das Vermächtnis (The Inheritance). Teil 1

„Er will eine Geschichte erzählen, sie rumort in ihm, schmerzt, will raus“

Der schmuckvolle Saal der großen Bühne des ETA Hoffmann Theaters. Die letzten Verse des Zitats Kaváfis‘ and die Wand geworfen: „Später – in einer vollkommenen Gesellschaft – / Wird ein anderer, beschaffen genau wie ich / Sich frei offenbaren und handeln“. Erwartungsvolle Anspannung des Publikums. Plötzlich stehen mehrere Personen aus den Reihen der Zuschauenden auf und sprechen wild durcheinander. Die Schauspielenden erobern die Bühne und mit diesem mitreißenden Startschuss beginnt die Premiere von Das Vermächtnis (The Inheritance) – Teil 1 von Matthew Lopez, in der deutschen Übersetzung von Hannes Becker. Sieben junge Männer einer Autorenwerkstatt nehmen das Publikum mit und erzählen gemeinsam, mit der Hilfe des Autors E. M. Forster, eine an dessen Roman Howards End angelehnte Geschichte.

Anfang 2016, Upper West Side, New York: eine Gruppe von Freunden und die Frage nach Vermächtnis, zwischenmenschlich sowie queer. Eric Glass, Mitte 30 und seit sieben Jahren mit dem Schriftsteller Toby zusammen, schart gerne seine Freunde für ein Gefühl der Gemeinschaft um sich. So auch Jasper, einen Social Justice Manager, Tristan, einen früheren Liebhaber sowie Jason und Jason, ein frisch verheiratetes Paar, das dabei ist, ihre Familie zu erweitern. Die diverse, intellektuelle Freundesgruppe genießt das Leben, doch es steht ein Umbruch bevor. Obamas letzte Amtstage sind angebrochen und mit der nächsten Präsidentschaftswahl sind ihre ganz persönlichen Freiheiten als homosexuelle Männer bedroht. Erics und Tobys Beziehung bekommt erste Risse und als Toby für die Bühnenadaption seines Romans Loved Boy New York verlässt, wird die Kluft zwischen den beiden größer. In Tobys Abwesenheit wird Walter, ein älterer Bekannter, zu einem innigen Freund für Eric. Durch Walter eröffnet sich für Eric eine Verbindung zu der Generation schwuler Männer, die vor ihm kam. Eine Generation, die jede Woche auf einer anderen Beerdigung war, die so viele Verluste durch die AIDS-Epidemie erleiden musste. Unzählige Menschen, die jetzt fehlen. Mentoren, die durch die Gemeinsamkeit darin, wen sie lieben, Eric und seinen Freunden heute nicht mehr zur Seite stehen können. Für Eric stellt sich deshalb die Frage nach dem queeren Vermächtnis und der Verantwortung der jungen Generation. Wie ist die Erinnerung zu wahren und daran der Kampf für die Zukunft auszurichten?

Das Vermächtnis der Sichtbarkeit

Bühnenautor Matthew Lopez zeichnet sich durch sein Gespür für Geschichten aus, die Konfliktthemen der queeren Gemeinschaft in ihrem Kern zu treffen und auf ehrliche und berührende Weise zu erzählen. Das Vermächtnis (The Inheritance) – Teil 1 schließt somit an sein vorheriges Werk The Legend of Georgia McBride an. Aktuell dürfte Lopez vielen als Regisseur für die Verfilmung des Romans Casey McQuinstons Red, White & Royal Blue bekannt sein. Die Kritik an Lopez, sich auf schwule cis-Männer zu fokussieren und die volle Diversität der LGBTQIA+ Community dahingehend zu vernachlässigen, ist berechtigt, aber die Bemühungen, dieser Diversität gerecht zu werden, scheinen doch in seinen Werken durch.

Eine Inszenierung, die ihresgleichen sucht

Den Schauspielenden Daniel Senuk, Marek Egert, Leon Tölle, Tim Czerwonatis, Jeremias Beckford, Eric Wehlan, Pit Prager, Florian Walter und Stephan Ullrich ist große Bewunderung zu zollen. Das Stück ist geprägt von unfassbar ergreifenden und erschütternden Momenten, aber auch von viel Witz. Den Schauspielenden gelingt es, beide Ebenen abzubilden, ohne dass eine darunter leidet. Das Stück zeichnet sich besonders durch den fliegenden Wechsel der inneren Geschichte um Eric und Toby und der äußeren Erzählung der jungen Autoren und E. M. Forster aus. Dieser Wechsel wird mit simplen Mitteln gemeistert, ist nie verwirrend und man wird als Zuschauer*in bestens an die Hand genommen und durch die Geschichte(n) geführt. Die schauspielerische Leistung der längeren, besonders berührenden Monologe verdient besondere Beachtung. Auch wurde der Text so kompetent und sensibel ins Deutsche übertragen, dass durch die Übersetzung keine Einbußen am Stück entstanden. Die besonders gelungene Umsetzung durch das ETA sowie die Schauspielenden wurde untermauert durch mehrmaligen Szenenapplaus und stehende Ovationen. Die Inszenierung unter der Regie von Sibylle Broll-Pape ist ein absoluter Erfolg und mit Nachdruck zu empfehlen.

Die nächsten Aufführungen finden am 11., 13., 19., 21., 27., 26. sowie 18. Oktober 2023 statt. Beginn ist jeweils um 19:30 Uhr. Die Vorstellungen zu Das Vermächtnis (The Inheritance) – Teil 2 beginnen mit der Premiere am 26. Januar 2024.

von Michaela Minder

Ensemble

von links Leon Tölle, Daniel Seniuk, Marek Egert

Marek Egert, Leon Tölle

©Birgit Hupfeld

2 Kommentare

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