Miriam Georg – Elbstürme
Miriam Georg – Elbstürme

Miriam Georg – Elbstürme

Rebellion und Neubeginn in Hamburgs dunkler Vergangenheit


Content Warnung: Ableismus, Depressionen, Drogensucht, Essstörung, internalisierte Homophobie, Gefangenschaft, Häusliche Gewalt, Misogynie, Vergewaltigung


Drei Jahre sind vergangen, seitdem die Reederstochter Lily von Kappeln infolge einer familiären Intrige mit ihrem besitzergreifenden Ehemann Henry nach England aufgebrochen ist – mit einer Tochter von ihrer großen Liebe, dem Hafenarbeiter Jo, im Bauch. An diese Ereignisse knüpft Miriam Georgs Roman Elbstürme an, der als zweiter Teil der hanseatischen Dilogie die dramatische Geschichte rund um die gesellschaftlichen Missstände im Hamburg des 19. Jahrhunderts mit düsteren Fäden fortspinnt. 

„Es köchelte mehrere Tage lang im Gängeviertel. […] Ein Vorgeschmack auf das, was kommen wird, murmelten viele.“

In Liverpool sehnt sich Lily jeden Tag nach Jo, von dem sie in den letzten drei Jahren kein Wort zu hören bekommen hat. Neben ihrer Hoffnung auf ein Wiedersehen ist ihre gemeinsame Tochter Hanna, von Henry mehr oder weniger geduldet, Lilys einziger Anker im monotonen, durch die Willkür und Gewalt des Ehemanns bestimmten Alltag. Doch die mutige Frau findet in ihrem heimlichen Kampf gegen die Armut im nahegelegenen Workhouse, in der Literatur und im Journalismus Ausflüchte, um ihre eigene Handlungsmacht zu bewahren.

Auch auf der anderen Seite der Nordsee tragen sowohl die Unter- als auch die Oberschicht ganz eigene Unabhängigkeitskämpfe aus: In Hamburg möchte Jo Rache an seinem skrupellosen Arbeitgeber Ludwig Oolkert üben, der auf perfide Weise am Verschwinden seiner Liebsten beteiligt war. Um den mächtigen Mann an seiner Achillesferse zu treffen, hat Jo einen eigenen Opium-Keller eröffnet, wofür der Hafenarbeiter heimlich Oolkerts Rauschmittel stiehlt. 

Unterdessen baut Lilys Mutter Sylta gemeinsam mit der Ärztin Emma Wilson und der wohlhabenden Gerda Lindemann eine Notunterkunft für Frauen auf. Von Lilys alten Zeitungsartikeln inspiriert, hat sich Sylta stärker mit der Armut in den Gängevierteln auseinandergesetzt. Gleichzeitig engagiert sich Lilys alter Freundinnenkreis rund um Emma passioniert für die proletarische Frauenbewegung. Der Mut zum Widerstand entfacht nicht nur innerhalb der Freudinnengruppe, sondern auch unter den Hafenarbeiter*innen einen revolutionären Funken. 

Doch plötzlich kehrt Lily mit Henry und Hanna nach Hamburg zurück. Welchen Einfluss werden diese schicksalhaften Entwicklungen auf die Träume und Sehnsüchte der jungen Frau nehmen?

„Der Anfang einer neuen Zeit“

Genauso wie sein Vorgänger Elbleuchten beeindruckt Miriam Georgs Roman Elbstürme durch die vielschichtigen Handlungsstränge, die sich zu einer schlüssigen und fesselnden Geschichte verdichten. Zusätzlich verschärft der Zeitsprung zwischen den beiden Teilen das Profil aller bekannten Charaktere, indem er ihre beeindruckenden Entwicklungen offenbart und den Leser*innen die umgreifenden Auswirkungen von Lilys Abwesenheit vor Augen führt.Ganz besonders gewinnen die weiblichen Charaktere im zweiten Band neue Handlungsspielräume und Visionen, deren Verwirklichung und Scheitern die Fallstricke des gesellschaftlichen Umbruchs in der zeitgenössischen Gesellschaft Hamburgs abbilden. Auch nähern sich die Frauenfiguren der Oberschicht stärker dem Leben der Hafenbevölkerung an, wofür sowohl die direkte Begegnung zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsklassen als auch das Lesen eine bedeutende Rolle spielen. Durch diese Verflechtung von Klasse und Geschlecht vor den Hintergründen des revolutionären Aufbegehrens der Hafenarbeiter*innen, der Frauenbewegung und der drohenden Umstrukturierung der Gängeviertel,erschafft die Autorin fesselnde Bilder von Einzel- und Gruppenschicksalen. Indem sie den Lesenden ermöglicht, die eckigen, stets interessanten Charaktere wiederzutreffen, wird insbesondere Lilys Situation greifbar, die so lange aus ihrem alten Lebensumfeld ausgeschlossen blieb. Die Liebesgeschichte zwischen Lily und Jo stellt dabei lediglich einen Knotenpunkt dar, an dem sich alle Geschichten kurzzeitig berühren, während alle anderen Facetten der Handlung mindestens genauso viel Bedeutung erhalten. Dabei scheut sich die Autorin nicht, zugunsten der historischen Realität auf das ein oder andere Happy End zu verzichten, um – wie sie auch in ihrem berührenden Nachwort erklärt – nicht selbst eine Romanze zu schreiben, die Lily nicht ausstehen könnte. 

Miriam Georg gelingt es so, die historischen Realitäten auf einer intersektionalen Dimension spannungsvoll und lebendig darzustellen, ohne zu beschönigen. Diese literarische Zeitreise in die dunklen Viertel der Hafenarbeiter*innen, die Wohnzimmer der ignoranten Oberschicht und die innersten Gedanken der Hamburger Klassengesellschaft besitzt alles, was ein grandioser, gesellschaftskritischer historischer Roman braucht, um auch an aktuelle kulturelle und feministische Debatten anschließen zu können.

von Elisa-Maria Kuhn

Miriam Georg
Elbstürme – Eine hanseatische Familiensaga
Rowohlt 2021
656 Seiten
12,00 Euro

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