Zwischen zwei Lebensabschnitten
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Die Ich-Erzählerin von Eine vollständigen Liste aller Dinge, die ich vergessen habe steht kurz vor einem neuen Lebensabschnitt: Ihre Zwillinge Max und Mila sind fast erwachsen, werden bald ausziehen und auch sie muss sich eine neue Wohnung suchen und ihr Leben neu sortieren. „Wir befinden uns in einer Art Limbus, einer verwaschenen Zwischenwelt ohne erkennbaren Horizont; die Zwillinge zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, ich zwischen erwachsen und alt“. Früher fürchtete sie sich davor, nach dem Auszug allein zu sein, wieder auf sich gestellt zu sein und diesen Weg ohne Partner an ihrer Seite beschreiten zu müssen. Doch als es dann so weit ist, ist es okay. Sie merkt wieder, dass sie gern allein ist, Fisch und Wein lieber in Radiobegleitung als in Gesellschaft zu sich nimmt.
„Ja, komisch. Ja, traurig irgendwie, aber auch okay.“
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe ist stellenweise genau das, was der Titel verspricht: eine Aufzählung. Die Kapitel sind meist sehr kurz und unzusammenhängend. Manchmal wirkt es wie ein Auszug aus einem Tagebuch; die Lesenden begleiten eine mittelalte Frau beim Resümieren und Planen. Man ist sich nie ganz sicher, ob es sich um einen Roman oder eine Autobiographie handelt. Die fiktive Erzählung wird immer wieder durch ein Schreiben übers Schreiben durchbrochen. Gleich zu Beginn macht die Ich-Erzählerin aus ihrer Tochter Luzi einen Sohn, weil diese nicht im Buch auftauchen will. „‚Gefällt mir nicht‘, sagt Luzi. ‚Na ja, sorry‘, sage ich, ‚aber dich gibt’s gar nicht mehr.‘“
Wer Doris Knecht aus ihren Kolumnen kennt, findet viele Parallelen zwischen der Autorin und der Protagonistin. Überhaupt wirkt das Werk eher wie eine lange, persönliche Kolumne und nicht wie ein Roman. Es gibt auch keinen klaren roten Faden: Es geht um die Last einer alleinerziehenden Mutter, um die Beziehung zu den Eltern und Schwestern, um Feminismus, um Geldsorgen einer Schriftstellerin und vieles mehr. Interessant erscheint die Parallele zu Virginia Woolf: Immer wieder taucht der Wunsch nach einem ‚Zimmer für sich allein’ auf. Auch die Frage nach Erwartungen schwingt mit: Hat eine Frau versagt, wenn sie sich nach dem Auszug ihrer Kinder verkleinern muss und nicht alles auf einmal geschafft hat – Kindererziehung, Karriere, Selbstreflexion? Der Schreibstil Knechts wechselt zwischen Umgangssprache und bildhaften Beschreibungen und wirkt stellenweise sehr interessant, stellenweise ein bisschen gewollt. Alles in allem ist Die vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe ein Buch, das viele Themen anspricht, in dem man sich als Frau aufgehoben und zum Nachdenken angeregt fühlt, aber das man nach der letzten Seite ohne großen Erkenntnisgewinn zuklappt.
von Hannah Conrady

Doris Knecht
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Hanser Berlin 2023
240 Seiten
24,00 Euro