„Am Ende war es irgendwie aushaltbar. Es ging schon.“ – Bis es eben nicht mehr ging.
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CW: Bodyshaming, Essstörung, (sexualisierte) Gewalt, Selbstverletzung, (internalisierte) Queerfeindlichkeit
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In Luca Mael Milsches Debütroman darf man Selah begleiten – durch die Jahre 1995, 2006, 2017 und 2023. In all diesen Lebensabschnitten versucht Selah zu sich selbst zu finden, inmitten all der Widerstände eines cis heteronormativen Systems, welches Erfolg an die Privilegierten verteilt. Als Leser*in begegnet man Selah als Kind, das darunter leidet, gespiegelt zu bekommen eine Belastung zu sein; als orientierungslose Person Anfang 20, die versucht zu vergessen, zu entkommen; als Mensch Anfang 30 in sich selbst gefangen – das Verdrängte schäumt über und Selah muss sich eine Auszeit nehmen; und letztlich erwachsen mit eigener Familie, konfrontiert mit der im Sterben liegenden Mutter und all den Konflikten, die wieder an die Oberfläche kommen und Wunden neu aufreißen lassen – seien sie auch nie narbenfrei verheilt.
Selig sind die, die zu sich finden
Milsch schafft es auf leise, aber umso eindrücklichere Art die Nuancen und Ebenen von Selahs Konflikten mit der Mutter, dem eigenen Umfeld und sich selbst abzubilden. Der Roman nährt sich von inneren Monologen, die die Erzählung dominieren und weit ausschweifen. Milsch schafft es aber, wie durch Magie – tatsächlich ist es reines Können –, dass dies nie das Leseerlebnis überlädt. Hier soll noch einmal darauf verwiesen werden, dass es sich bei Sieben Sekunden Luft um einen Debütroman handelt, was für eine umso beachtlichere Leistung spricht. Gekonnt werden Auslassungen eingesetzt, um Brüche in der Erzählung physisch spürbar zu machen. Auch die wechselnden Erzählperspektiven werden stilistisch gewählt und kreieren in der ersten, zweiten oder dritten Person eine ganz bestimmte Distanz bzw. Nähe – zu Selah und zum*r Leser*in. Man wird sogartig in das Erlebte und die Gedanken Selahs gerissen, verliert sich darin aber nicht, da es Milsch versteht, die Lesenden durch Selah anzusprechen. Man erkennt sich in Selah wieder, wird mit eigenen Unsicherheiten, Ängsten und Erfahrungen bzw. Erinnerungen konfrontiert. Das macht die Lektüre nicht leichter, aber besser. Milsch zeigt, wie man Schmerz, Gefühle der Ablehnung, des Alleingelassenseins und des Disconnects mit sich selbst aufgrund eines feindseligen Systems in Prosa webt; dabei Aussicht auf eine Befreiung, ein Zu-Sich-Finden und Ankommen durchblitzen lässt, aber gleichzeitig realistisch bleibt und anerkennt, dass solche Erfahrungen einen immer begleiten werden. Milsch gibt mit Sieben Sekunden Luft Hoffnung, auf Romane, die Identität in ihrer Vielschichtigkeit erkennen und allen Dimensionen Aufmerksamkeit schenken, ohne ein Happy End zu erzwingen, oder die Lesenden trostlos im Trauma zurückzulassen.
Ein durchdringender Roman, dem Schwere und Tiefe zugrunde liegen und der durch die zärtliche Erzählweise nachhaltig berührt.
von Michaela Minder
Luca Mael Milsch
Sieben Sekunden Luft
Haymon 2024
264 Seiten
22,90 Euro