Charlotte Gneuß – Gittersee
Charlotte Gneuß – Gittersee

Charlotte Gneuß – Gittersee

Eine geglückte Melange aus Coming-of-Age und politisch-geschichtlichem Roman

Die Leser*innen lernen in Charlotte Gneuß‘ Debütroman die 16-jährige Ich-Erzählerin Karin kennen, die in den 1970ern in Ostdeutschland aufwächst. Sie lernt zu lieben und zu vermissen, erfährt Vertrauensmissbrauch und wird mit Verantwortung konfrontiert, hervorgerufen durch die Staatssicherheit der DDR, die bewusst Jugendliche als deren Spitzel akquiriert.

Karin, die sich selbst gerne Komma nennt, lebt in den 1970er Jahren gemeinsam mit ihrer Familie in Gittersee. Sie kümmert sich viel um ihr Schwester, die Kleine, während ihre Eltern arbeiten und mit sich mit der elterlichen Rolle zu identifizieren versuchen. Die Protagonistin verliebt sich in den mopedfahrenden Paul, der eines Tages sehr viel Geld bei sich hat und kurz darauf nicht mehr auftaucht. Sein Verschwinden beschäftigt sie durch den Roman hinweg und eines Tages wird sie von StaSi- Mitarbeiter Wickwalz abgefangen. Karin gerät somit relativ zu Beginn der Handlung in die Hände eines Spitzels, der ihr Vertrauen gewinnt. Eine harmonische Beihilfe zur Bespitzelung beginnt:

“Ich hatte Wickwalz versprochen, ihm alles zu sagen, was Paul betraf. Ich hatte ihm mein Pionierehrenwort darauf gegeben, mein Leninehrenwort.“

Der Text wirft Fragen zur Schuld und Vertrauen auf, lässt gleichsam darüber nachdenken, inwieweit Jugendliche Verantwortung für welche Belange tragen können. Charlotte Gneuß weiß Worte für inneren Widerstand zu finden und thematisiert frühe Elternschaft ebenso wie Pubertät. Sie schafft neben Karin und Paul weitere prägnante jugendliche Charaktere, deren Lebensalltag sich trotz Pflichtbewusstsein und Strenge mit einer jugendlichen Leichtigkeit füllt, indem er durch die Brille einer 16-jährigen erzählt wird:

„Inge saß im Schneidersitz auf der Platte und wollte tun, als wäre sie beleidigt, doch eigentlich war sie sehr vergnügt und kicherte, weil sie fand, dass wir mit dem Lippenstift dämlich aussähen, und weil sie sich freute, dass alle ihren Lippenstift wollten.“

Ein Debütroman mit ausgiebigem Diskurs

Gittersee wurde 2023 für den deutschen Buchpreis nominiert. Die Autorin Charlotte Gneuß erhielt vor allem von Schriftsteller Ingo Schule, mittlerweile Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Bildung, Kritik dafür, sich als im Westen geborene Autorin mit ostdeutschen Eltern dieser Thematik nicht richtig anzunehmen. Dafür erstellte er eine „Mängelliste“. In einem Podcast war gar von Kulturaneignung die Rede.

Der Inhalt des Romans ist brisanter denn je und von in der DDR geborenen Autor*innen so bisher nicht thematisiert worden, um die Daseinsberechtigung nur an einer von vielen Stellen zu legitimieren. In anderen Worten: Wie würde Literatur funktionieren, dürfte Autor*in nur Selbsterlebtes schreiben? Bedarf es einer Begrenzung an Fiktion im literarischen Schreiben? Wer darf darüber bestimmen? Vielleicht ist es an dieser Stelle nennenswert zu betonen, dass der ebenso für den S. Fischer Verlag agierende Autor Ingo Schulze selbst im Osten geboren ist und seine Kritikpunkte als möglicherweise universell hinstellen möchte? Hier wäre zum Beispiel zu erwähnen, dass damals nicht in der Elbe gebadet wurde, was die Figuren im Roman jedoch tun. Dies wäre einer von über 20 weiteren Punkten, die er in der „Liste über Korrekturvorschläge“ zu Gittersee aufzählt. Welches Ziel Schulze auch immer verfolgte, der aspekte-Literaturpreis ging neben dem Jürgen-Ponto-Preis im Jahr 2023 an Gittersee, ebenso war der Roman für den deutschen Buchpreis nominiert.

Autor*innen-Labelling gestaltet sich generell als eine schwierige Geschichte, da ihre Biografie verkürzt wird und die Schreibenden in ein kleineres Format zurechtgeschnitten werden, wie uns die Autorin selbst in einem mit uns geführten Interview erzählt.

Charlotte Gneuß verfasste einen Text mit sogartiger Wirkung, der Leser*innen eine wunderbare Dosis an Geschichte verabreicht, aus bedacht gewählten Worten und einer runden Handlung. Der Bitte nach mehr davon ist die Autorin bereits nachgegangen: Am 01. März erschien Oder Reutershagen beim Magazin für Kurzgeschichten DAS GRAMM.

 von Miriam Mösl

Charlotte Gneuß
Gittersee
S. Fischer Verlage 2023
240 Seiten
22,00 Euro

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