„Dies ist ein Buch über die Natur, jedoch keines, das vom Reiz des Ursprünglichen schwärmt.“
—
So beschreibt die schottische Autorin und Journalistin Cal Flyn ihren Essayband Verlassene Orte. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt, in dem sie die Lesenden an Orte mitnimmt, wo nur noch wenige oder keine Menschen mehr leben. Sie erzählt von Schlackenhalden, Überbleibsel der Produktion von Schieferöl in Schottland, auf deren Hängen sich innerhalb einiger Jahrzehnte über 350 teils seltene Pflanzenarten ausgesät haben. Von Pflanzen, die in Böden mit hohem Gehalt an Schwermetallen besonders gut wachsen und die diese Böden durch die Aufnahme der Metalle wieder für andere Pflanzen nutzbar machen. Von Grenzgebieten, die als Pufferzonen in anhaltenden geopolitischen Konflikten bis heute der Natur überlassen sind, die nach Ende eines solchen Konflikts aufgrund des entstandenen Artenreichtums zu Naturschutzgebieten wurden, oder deren Biodiversität sogar als Motivator diente, einen Konflikt zugunsten des Artenschutzes zu beenden. Und von vielem mehr – von Ökosystemen, die sich langfristig und oft katastrophal verändert haben und in denen bei genauerem Hinsehen doch noch so viel lebt.
Lebendig und bildhaft schreibt Flyn über die Orte, die sie besucht, und macht die fachlichen Hintergründe für ein Laienpublikum zugänglich. Diese sind sowohl von biologischer und ökologischer als auch von soziopolitischer und historischer Natur, denn auch die Gründe, warum eine Gegend verlassen wurde, finden Beachtung – seien es Kriege, Naturkatastrophen oder sich entwickelnde und wieder verschwindende Industriesektoren. In jedem Kapitel steht eine bestimmte Stätte im Zentrum, aber der Text wird angereichert mit Beispielen anderer Orte, an denen das gleiche oder ein ähnliches Phänomen vorzufinden ist. Dadurch wird klar, dass es sich um mehr handelt als um eine Reihe von Reiseberichten zu kuriosen, aber isolierten Einzelfällen: An vielen der verlassenen Orte lassen sich ökologische Entwicklungen beobachten, die auch anderswo auftreten können und in einer Welt, die sich zunehmend durch menschliches Einwirken verändert, Beachtung verdienen.
Kein „Freifahrtschein zur weiteren Plünderung unseres Planeten“, sondern „Leuchtfeuer der Hoffnung in einer Welt, die sich manchmal hoffnungslos anfühlt“
Von einem Buch, das sich damit befasst, wie positiv sich die Natur an von der Menschheit verlassenen Orten oft entwickelt, könnte man erwarten, dass es eine gewisse Angriffsfläche für Kritik bietet. Dass es etwa die Folgen des menschengemachten Klimawandels herunterspielt, indem argumentiert wird, dass doch an vielen Orten das Schlimmste schon passiert sei und das Leben trotzdem weiterginge. Oder aber, dass es sich der Vorstellung bedient, menschliches Leben sei grundsätzlich schlecht für den Planeten und Katastrophen wie Pandemien oder Hungersnöte seien aus Sicht des Umweltschutzes zu begrüßen.
Von derartigen Ansätzen allerdings distanziert sich Cal Flyn explizit und kritisch. Sich den Tod großer Mengen von Menschen zu wünschen, damit sich die Natur erholen könne, weist sie als „sowohl anmaßend als auch unmenschlich“ zurück. Und wenn sie von Szenarien erzählt, in denen sich Tiere oder Pflanzen überraschend schnell an eigentlich katastrophal veränderte Umweltbedingungen angepasst haben, entsteht zu keiner Zeit der Eindruck, dass sie solche Katastrophen kleinzureden oder zu relativieren sucht. Vielmehr sind diese Phänomene kleine Lichtblicke, die beweisen, dass es sich zu kämpfen lohnt, weil noch lange nicht alles verloren ist. In der Auseinandersetzung mit ihrer Thematik geht Flyn nuanciert vor und verfällt weder nihilistischen Weltuntergangsfantasien noch der unbegründeten Hoffnung, alles würde einfach so wieder gut werden.
Obwohl es in Verlassene Orte um eben jene geht, behält die Autorin die menschliche Komponente stets im Blick. Das beginnt schon bei den im Buch abgedruckten Bildern: Gezeigt werden vor allem Landschaften und die Innenräume öffentlicher Gebäude wie Schulen oder Fabriken. Privathäuser hingegen sieht man nur von außen. Hier mögen keine Menschen mehr wohnen, aber sie haben es einmal getan und Flyn achtet auch Jahre später noch ihre Privatsphäre. Auch ist sie auf ihren Erkundungen meist nicht allein, sondern trifft sich mit Menschen, die dort noch leben oder früher gelebt haben. So werden ihre Reiseberichte zu mehr als den Eindrücken einer Fremden, die von außen auf diese Orte blickt – sie vermitteln die Erfahrungen derer, für die es um weit Wichtigeres geht als um ein interessantes Buchkapitel. All dies macht Verlassene Orte zu einer sehr lohnenden Lektüre für alle, die Interesse an der Natur und an einer für das 21. Jahrhundert angemessenen Auseinandersetzung mit ihr haben.
von Johanna Ammon
Cal Flyn
Verlassene Orte. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt
Aus dem Englischen von Milena Adam
Matthes & Seitz Berlin 2023
344 Seiten
34,00 Euro
ISBN 978-3-7518-4004-0