Caroline Wahl – Windstärke 17
Caroline Wahl – Windstärke 17

Caroline Wahl – Windstärke 17

Eine Welle aus emotionaler Wucht

CW: Alkoholsucht, Chemotherapie, Demenz, Drogenkonsum, Krebserkrankung, Panikattacken, Suizid, Suizidgedanken, Tod, Überdosis

Ohne Plan, aber stattdessen mit kiloweise Wut und unverarbeiteter Trauer im Gepäck, reist Ida spontan nach Rügen. Eigentlich war sie auf dem Weg nach Hamburg, wo ihre Schwester Tilda auf sie wartet. Doch ein Handy im Flugmodus und Zeit am Meer sind sicher hilfreicher als Tildas Mitleid, oder? Idas Start auf der Ostseeinsel ist allerdings mehr als holprig – bis sie Zuflucht bei Marianne und Knut findet und den undurchschaubaren Leif kennenlernt. Doch das Glück in ihrem neuen Zuhause währt nicht lange…

Von verlorener und gefundener Familie

Nach dem großen Erfolg ihres Debütromans 22 Bahnen legt die Autorin Caroline Wahl nun ihr zweites Werk, Windstärke 17, vor. Kenner*innen des ersten Teils erfahren hierin nun endlich, wie es mit den Schwestern Ida und Tilda weitergeht. Anfangs mag es einen Moment dauern, bis die Leser*innen das Bild der kleinen Ida aus dem ersten Buch abgelegt haben und in ihrem neuen Lebensabschnitt angekommen sind, jedoch werden sich mögliche Zweifel schon nach wenigen Seiten in Luft auflösen. Zwar ist es auch denkbar, den zweiten Roman als eigenständige Geschichte zu lesen, die Lesefreude steigt allerdings, wenn man bereits mit der Familie und ihrer Vergangenheit vertraut ist.

„Das Wasser und ich eine Einheit, ich ein Teil vom Meer, ein erschreckend kleiner Teil vom Meer. Die Gedanken und der Schmerz laufen aus meinem Körper raus.“

Auch dieses Mal gelingt es Wahl wieder, mit ihrem Schreibstil auf ganzer Linie zu überzeugen. Wie sie Idas komplexe Gefühlswelt schildert, ist gleichermaßen schonungslos und berührend. Die Direktheit ihrer Beschreibungen und Dialoge wirkt erfrischend und doch poetisch, denn die Autorin versteht es, mit wenigen Worten so viel zu erzählen. Auf diese Weise fliegt man beim Lesen nur so durch die Seiten (auch wenn ich persönlich den Lesesog stellenweise gerne aufgehalten hätte, um noch länger in der Geschichte verweilen zu können).

Wie sein Vorgänger ist Windstärke 17 trotz seines Settings, wofür dieses Mal die Ostseeinsel Rügen gewählt wurde, keine locker-leichte Urlaubslektüre. Im Gegenteil: Die Handlung beginnt mit einem Schicksalsschlag und hält immer neue Belastungen für die Protagonistin Ida bereit. Die immense Naturgewalt des Meeres als Verbindung zu diesem Gefühlschaos aufzugreifen, ist Wahl hierbei meisterlich gelungen, und sorgt dafür, dass die emotionale Wucht des Romans eine noch tiefere Ebene erreicht. Trotz dieser Schwere hat der Roman jedoch auch immer wieder Platz für leichte, hoffnungsvolle Momente.

„Auf dem Heimweg pflücke ich einen mickrigen Blumenstrauß für Marianne und frage mich, ob das hier vielleicht wirklich ein kleines bisschen mein Zuhause ist.“

Besonders Idas Beziehung zu Marianne und Knut, die sie unter ihre Fittiche nehmen und zu einer Art found family für sie werden, ergänzen die Handlung um einige herzerwärmende Szenen. Neben dieser familiären Dynamik entsteht zudem eine vorsichtige Liebesgeschichte, welche teils bewusst mit Kitsch à la Highschool-Film aufwartet, aber nie unnatürlich wirkt und die Figuren zudem bei ihrer individuellen Entwicklung unterstützt.

Mit Windstärke 17 hat Caroline Wahl es erneut geschafft, mit ihrem frischen, schnörkellosen Schreibstil eine Geschichte zu erzählen, die berührt, belastet und unter die Haut geht. Für mich persönlich nicht nur ein Highlight des aktuellen Lesejahres, sondern ein neues Lieblingsbuch, das ich nur allen ans Herz legen kann, die emotionale Romane mögen.

von Alicia Fuchs

Caroline Wahl
Windstärke 17
DuMont 2024
256 Seiten
24,00 Euro
ISBN: 978-3-8321-6841-4

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