Stephen King Meets the Suburban Uncanny
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CW: Alkoholismus, Antisemitismus, Blut, Depression, detaillierte Beschreibungen von Suizid und Selbstverletzung, Erwähnung und Verharmlosung des Holocaust, Erwähnungen von sexueller und häuslicher Gewalt, (ritueller) Mord, Queerfeindlichkeit, Rassismus, Sterbehilfe, Tierleid, Tod, Unfall
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Was würdest du tun, wenn man dir unendliches Glück verspräche? Keine finanziellen Sorgen mehr, die Garantie von Erfolg, Gesundheit sowie grenzenloser Schönheit für dich und deine Familie? Welche Grenzen würdest du überschreiten, um an ein solches Glück zu geraten? Die Gewissheit, dass das alles dir gehören und nur ein minimales Opfer verlangen würde…
Die idyllische Kleinstadt Lock Haven im US-Bundesstaat Washington könnte nicht unscheinbarer sein, wären da nicht die Bewohner*innen der Bird Street. In der Bird Street steht Haus an Haus, Tür an Tür, in Reih und Glied. Doch die Bewohner*innen dieses Teils der Stadt bewahren ein grausames Geheimnis. Um das Glück und den Wohlstand ihres kleinen Nachbarschaftsverbunds aufrechtzuerhalten, pflegen die Familien Lewis da Silva, Wachowski, McKinley und Aikman eine düstere Tradition. Einmal im Jahr, im November, müssen sie im Wald hinter der Häuserreihe ein Menschenopfer darbringen. Denn sie haben einen Pakt mit dem Teufel – in Form des übernatürlichen Buchhalters – geschlossen und werden Jahr für Jahr, während der Dunklen Tage, an ihre unmenschlichen Abgründe und unmoralische Taten zurückerinnert. Alles scheint gutzugehen, bis Kaila, die älteste Tochter der Lewis da Silvas, den grausigen Machenschaften ihrer Eltern sowie Nachbar*innen auf die Spur kommt…
„[T]euflische Pakte und übernatürliche Kräfte“
Grausig, realistisch, etwas Psychoterror und eine durchweg düstere Atmosphäre – genau das Richtige für die dunklen Herbsttage und alle, die sich für realistische Schauergeschichten begeistern können. Doch eins vorweg: Der Horrorroman November des niederländischen Autors Thomas Olde Heuvelt ist nichts für schwache Nerven. In seinem Roman geht Heuvelt nicht nur den dunkelsten menschlichen Abgründen auf den Grund, sondern behandelt ebenso gesellschaftlich relevante Themen wie Sterbehilfe und Suizid, die nachdenklich stimmen. Heuvelts Schreibstil ist unfassbar fesselnd, sehr bildhaft und an manchen Stellen schwer zu ertragen; schließlich bohrt der Autor immer wieder mit dem Finger direkt in die Wunde – und das wortwörtlich. Obwohl der Roman übernatürliche Elemente beinhaltet, ist die Handlung weniger gespenstisch als erwartet. Das Gruseligste an der Geschichte ist weniger die dämonische Erscheinung des Buchhalters oder die verlorenen Seelen der Getöteten in den Spiegeln während der Novemberzeit, sondern der scheinbar steigende Verlust von Menschlichkeit der einzelnen Charaktere.
Heuvelts Romanfiguren sind nicht sympathisch. Und das sollen sie auch gar nicht sein. Bis auf Familie Lewis da Silva, aus deren Perspektive die Handlung erzählt wird, zeichnet Heuvelt nicht nur fragwürdige Charaktere, sondern beinahe Karikaturen voller Selbstbezogenheit, Egozentrizität und Habgier. Dazu kommt, dass die im Buch dargestellten „Glückssträhnen“ der Birdstreet-Bewohner*innen etwas weit hergeholt und etwas zu fantastisch wirken: Von Olympia-Athletin bis Piano-Wunderkind, welches bei James Corden auf dem Sofa sitzt. Darüber hinaus ist der Kontrast des Erzähltempos zwischen den beiden Handlungsteilen – dem Vor und Danach des Novemberopfers – sehr stark: Während auf den ersten 350 Seiten der ganze Monat November aus verschiedensten Blickwinkeln und Charakteren betrachtet wird, rauscht die Handlung des darauffolgenden Jahres, 2023, in der zweiten Hälfte des Romans an den Leser*innen nur so vorbei. Das mag eine bewusste erzählerische Entscheidung des Autors gewesen sein, wobei die unterschiedlichen Kapitel, die aus den wechselnden Perspektiven der vierköpfigen Lewis da Silva-Familie erzählen, stellenweise etwas Verwirrung stiften. Nichtsdestotrotz endet die Geschichte mit einem großen Knall und einem unerwarteten Plottwist, der es in sich hat.
Letztendlich zeigt Heuvelts Roman, dass das wahre Böse nicht die Monster unter dem Bett, die Schreckgespenster im Wald oder der Teufel sind. Das wahre Grauen liegt im Inneren des Menschen, in seiner Habgier und Maßlosigkeit, die nach immer mehr strebt und den damit verbundenen moralischen Dilemmata. All das zeigt Heuvelt mithilfe seiner Protagonist*innen und stellt dabei die Frage, wie leicht sich Menschen aufgrund ihrer Triebe und Begierden lenken lassen können und dabei ihre Moral und Menschlichkeit über Bord werfen würden. Das Fazit des Buchhalters am Ende des Romans ist daher plakativ, niederschmetternd, aber in gewisser Weise ebenso treffend:
„Menschen haben ein Verfallsdatum. Sie verrotten. … Ihre Schlechtigkeit kennt keine Grenzen. Ich habe ihre Menschlichkeit nicht geraubt, das haben sie selbst getan. Menschen sind Kannibalen, die trotz eines Überangebots nicht widerstehen können, sich selbst zu zerfleischen.“
von Kristina Steiner
Thomas Olde Heuvelt
November
Aus dem Niederländischen von Janine Malz
Heyne 2023
640 Seiten
18,00 Euro
ISBN: 978-3-453-32144-1