Alexander Kluge/Anselm Kiefer – „Klugheit ist die Kunst, unter den verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“
Alexander Kluge/Anselm Kiefer – „Klugheit ist die Kunst, unter den verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“

Alexander Kluge/Anselm Kiefer – „Klugheit ist die Kunst, unter den verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“

Hypermetatransmedial – Oder: Der Wunsch nach dem roten Faden 

Es fühlt sich an, als stünde ich in einer Galerie. In ein wenig Entfernung unterhalten sich zwei Männer höheren Alters. Ich trete etwas näher heran, sie sprechen – gewiss sachkundig – über die ausgestellten Werke. Ich bin so nahe, dass ich jedes Wort klar und deutlich vernehme. Und doch verstehe ich den Sinn hinter ihren Worten nur manchmal, sie scheinen eine Geheimsprache zu sprechen. Voller Faszination über mein anhaltendes Unverständnis klebe ich an ihren Lippen.  

Ich lese, schaue, staune. Weiß nicht, was ich da eigentlich lese, weiß es erst im Nachhinein, decodiere, entschlüssele, entdecke fortwährend und muss mich doch geschlagen geben. Es ist vergleichbar mit einem Happening: Bis zum Ende des Buches bleibt unklar, wovon man da eigentlich Zeuge wurde.  

Dieses Werk lässt sich nur metaphorisch beschreiben. Es sind zwei intellektuelle Tausendsassas, welchen man durch Buchstaben lauscht: Alexander Kluge, Deutschlands erster Autorenfilmer und sein Freund Anselm Kiefer, einer der prominentesten bildenden Künstler des Landes. Ihre Medien sind unterschiedlich, ihre Herangehensweisen primär visuell. In Buchform, sollte man meinen, seien sie einzig auf die Sprache angewiesen, doch dieses Format schränkt die Freigeister nicht ein. Wabernde poetische Wolken, assoziative Schnipsel und ein disparates Gefüge aus Bildern, Filmausschnitten und Essays fügen sich zu einem Konglomerat, das mir als Rezensentin einiges abverlangt. Bin ich nun auch Kunst- oder Filmkritikerin?  

„So ist Klugheit nicht nur Schlauheit, sondern eine Kunst. (…) Die Kunst, kontrafaktisch zu sein: sich zu trauen, unter widrigen Umständen derselbe zu bleiben.” 

Dies macht Alexander Kluge wahr, denn diese Publikation über „Verlässlichkeit in zerrissenen Zeiten“, wie sie der Untertitel ausweist, ist mutig. Mutig deshalb, weil hier zwei Intellektuelle anschreiben gegen eine Zeit, in der ihre Art zu Denken und Schreiben aus dem Rahmen fällt. Das Buch ist zwar als Dialog überschrieben, federführend scheint aber Kluge zu sein, entsprechend seiner Selbstwahrnehmung als Schriftsteller. Pinselführend und konzeptionell vorwirkend war jedoch Anselm Kiefer. Mit seinen Werken setzt sich Kluge in szenenhaften Beobachtungen auseinander, nimmt Bezug auf das, worauf Kiefer künstlerisch Bezug nahm. Da haben sich zwei gefunden, will man sagen, denn ihr Universalitätsanspruch an (ihre) Kunst führt zu einem inspirierenden Austausch, in dem sich die beiden gegenseitig zu immer weiteren Ausgriffen nach klassischem Bildungsgut hochschaukeln. 

„Es müsste möglich sein, dass die Verschränkung von Texten, Bildern, Filmen, Dokumentationen und Poemen: die tausend Splitter und Fragmente, dazu führt, dass Tote auferstehen.” 

Es ist ein anstrengender, voraussetzungsreicher Parforceritt durch die Geistesgeschichte, der nichts hält von Leserfreundlichkeit. Und Tote erstehen auf: Es geht von Ovid über Immanuel Kant zu Talcott Parsons, E.T.A. Hoffmann und wieder zurück, eine sprunghafte Akrobatik durch Künste und Epochen. Die Volten zweier hochdynamischer Geister halten die Lesenden auf Trab und es ist beinahe ein Hohn, dass das Buch in „Stationen“ eingeteilt ist. Stillstand gibt es nicht, hier ist alles im Fluss, panta rhei

So steht man vor einer transmedialen Bricolage an Gedankenschnipseln, die zusammengehalten werden von einem enzyklopädischen Klebstoff der Belesenheit. Vom Hundertsten ins Tausendste führte Alexander Kluge seine Gesprächspartner auf seinem nächtlichen Sendeplatz im Privatfernsehen. Von Hunderten bis zu imaginären Zahlen geht es in diesem Buch. 

Übergreifende Motive sind immer wieder die Musik und die Mathematik, antike Mythologie und Faust II, kabbalistische Buchstaben- und Zahlenkunst. Die septem artes liberales werden virtuos rauf und runter dekliniert. Die Vorliebe für große Zusammenhänge und esoterische Geheimlehren führen zu einem passagenweise hermetischen Gefüge aus Wörtern. „Pluriversum“ hieß eine Werkschau, die Alexander Kluge anlässlich seines 85. Geburtstags 2019 konzipiert hat. In diesem Begriff ist alles vereint, die Multidimensionalität, die kosmischen Zusammenhänge, die bisweilen so weit abdriften, dass man glaubt, als Normalsterbliche*r nicht folgen zu können. Die Sphärenmusik nicht ganz so durchdringen zu können wie die im Buch auftauchenden Gelehrten Johannes Kepler, Robert Fludd und der studierte Kirchenmusiker Kluge. 

Es ist eine Art Hyper-Meta-Text. Die Links aus Kluges und Kiefers Hirnen sind nicht klickbar, doch im Buch gibt es QR-Codes. Wie in ein Labyrinth führen diese über die Gattung ‚Buch‘ hinaus zu Kurzfilmen und Aufzeichnungen von Gesprächsausschnitten. Nur darf man nicht auf Ariadne warten. Einen roten Faden sieht man nur manchmal. Immerhin das ist verlässlich. 

von Jana Paulina Lobe

Alexander Kluge, Anselm Kiefer 
»Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben«
Bibliothek Suhrkamp 2024
240 Seiten  
28,00 Euro  
ISBN 978-3-518-22557-8

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