Lyrik in Bewegung
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„Augmented Reality Ausgabe“ heißt es auf dem Titelblatt des Gedichtbands handverlesen. Das bedeutet: Gedichte, die in Gebärdensprache verfasst wurden, lassen sich hier sowohl in ihrer ursprünglichen Form als auch in lautsprachlichen Text übersetzt erleben. Dafür wurde jedes Gedicht im gebärdensprachlichen Original gefilmt und ein Standbild des Videos neben der Übersetzung abgedruckt. Mit einem digitalen Endgerät kann man sich diese Standbilder dann als Videos anzeigen lassen. Das funktioniert mit verschiedenen Geräten und Browsern mehr oder weniger gut – wer es erst einmal ausprobieren möchte, findet hier eine Leseprobe.
Erweitert wird der Gedichtband um zwei längere Texte (die auch in Gebärdensprache als Video zur Verfügung stehen). In einem Vorwort stellt Franziska Winkler die Literaturinitiative handverlesen vor, die sie bereits 2017 zusammen mit Katharina Mevissen ins Leben gerufen hatte, und erläutert Hintergründe und Gestaltungselemente der Gebärdensprachpoesie. Sie führt ein in dieses Genre, das den meisten unbekannt sein dürfte und das, so Winkler, das traditionelle Textverständnis in Frage stellt: „Gebärdensprachpoesie ist visuell, nutzt den dreidimensionalen Raum und sprengt das lineare Modell von Laut- und Schriftsprache in ein offenes linguistisches, poetisches Feld von Bild und Zeit, Raum und Körper.“ Hier wird der Körper zum Medium, Poet*in und Werk sind in der Performance untrennbar. Klassische Bestandteile von Gedichten bekommen eine neue Bedeutung. Sie entstehen nicht durch Sprachklang, sondern durch Bewegung: Deren Takt schafft den Rhythmus. Und gereimt wird durch die Wiederholung von Bewegungen ebenso wie durch ihre leichte Abänderung.
„Text-, Sprach-, Stilmittel- oder Gedichtanalysen war etwas, das den Hörenden gehörte, für uns unzugänglich und betraf uns nicht.“
Auf das Vorwort folgt ein Essay von Liona Paulus. Die Professorin für Gebärdensprachdolmetschen und Gebärdensprachen an der Universität Hamburg setzt sich damit auseinander, wie stark der Fokus im deutschen Sprach- und Literaturunterricht auf der Lautsprache liegt – selbst an Förderschulen. Sie bringt dabei auch eigene Erfahrungen ein und zeigt auf, dass Taube Menschen im schulischen Kontext immer wieder gefordert sind, sich mit lautsprachlicher Literatur und Grammatik zu beschäftigen, während kaum Raum für die Literatur und Linguistik der Deutschen Gebärdensprache geschaffen wird. In Konsequenz plädiert sie für einen hinsichtlich der DGS mehrsprachigen Literaturunterricht und -betrieb.
Zu diesem mehrsprachigen Literaturbetrieb leisten die Gedichte und ihre Übersetzungen, die den Rest des Bandes füllen, ihren Beitrag. Übersetzt wurden diese Gedichte nicht von Gebärdensprachdolmetscher*innen, sondern von hörenden Lyriker*innen, die sich – unterstützt durch Dolmetscher*innen – mit den Tauben Autor*innen über deren Werke ausgetauscht und auf dieser Basis ihre Übersetzungen angefertigt haben. Dabei gibt es die verschiedensten Ansätze, von denen hier nur einige beispielhaft erwähnt seien: Anna Hetzer setzt auf typografische Stilmittel, die die Räumlichkeit der Originalgedichte in den gedruckten Text transportieren. Ulf Stolterfoht bewegt sich in seiner Übersetzung auf der Meta-Ebene und beschreibt und kommentiert, was er sieht. Ganz besonders überzeugt Lea Schneider, die gleich drei Gedichte von unterschiedlichen Autor*innen übersetzt und es dabei jeweils schafft, die Wirkung des Originals genau einzufangen.
Ebenso vielfältig sind die Originalgedichte, die zeigen, dass es innerhalb des Genres der Gebärdensprachpoesie bei weitem nicht nur eine Stilrichtung gibt. Rafael-Evitan Grombelka nutzt die Mittel der filmischen Inszenierung, etwa indem er mit Licht, Schatten und Kameraschnitten spielt. Von Julia Kulda-Hroch gibt es mit „Nebel“ ein kurzes Gedicht, das, wenn man zumindest das Gebärdensprachalphabet beherrscht, eigentlich kaum einer Übersetzung bedarf. Laura-Levita Valytes und Dawei Nis Gedichte sind länger – wenn man sie zum ersten Mal noch vor dem Lesen der Übersetzung auf sich wirken lässt, gibt es dennoch Stellen, bei denen man den Eindruck hat, sie aufgrund von Gestik und Mimik schon im Ansatz zu verstehen. Abstrakter und mit weniger verschiedenen Gebärden dichtet Kassandra Wedel – hier wird die oben angesprochene Körperlichkeit der Gebärdensprachpoesie ganz besonders deutlich und sorgt für eindrucksvolle Momente.
Der Gedichtband baut Barrieren ab und schafft Zugänge – Zugänge für Gebärdensprachpoet*innen zu einem größeren Publikum, und Zugänge für dieses Publikum zu einer Literaturlandschaft in einer Sprache, derer viel zu wenige mächtig sind. Ein spannendes Projekt! Und Lust, etwas Gebärdensprache zu lernen oder bestehende Kenntnisse zu vertiefen, macht es sowieso.
von Johanna Ammon
Franziska Winkler (Hrsg.)
handverlesen – Gebärdensprachpoesie in Lautsprache
hochroth 2023
56 Seiten
10,00 Euro
ISBN 978-3-949850-11-0