„Ich bin Archäologe mit Schlagseite.“
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CW: Tod
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So bezeichnet sich Gabriel Zuchtriegel, der Direktor des Archäologischen Parks Pompeji, in seinem autobiographisch angehauchten Sachbuch Vom Zauber des Untergangs: Was Pompeji über uns erzählt, wenn er seinen dort oft genannten „Motor“ beschreibt. Damit bezeichnet er sein persönliches Interesse, welches ihn antreibt, sich so intensiv mit der Antike zu beschäftigen und in dieser eine echtere, bessere und wahrere Welt vorzufinden. Das darf jedoch nicht von sachlicher Argumentation ablenken. Hier deutet sich schon an, wie Zuchtriegels Buch aufgebaut ist: Er verbindet Themen aus Pompeji mit Fragestellungen und Begebenheiten aus der Forschung, dem persönlichen Bezug dazu und schließlich auch mit allgemeingültigen Überlegungen. Da geht es beispielsweise um die Frage nach dem noch nicht abschließend interpretierten Mysterienfries von Pompeji, die berühmten erotischen Darstellungen im Bordell und manchen Häusern, die Bronzestatue des sogenannten Apollo Citarista, die Frage nach der Einwohnerzahl von Pompeji und deren Verteilung auf Stadt und Land, ein mit Haut und Haaren erhaltenes Skelett und schließlich das „Sklavenzimmer“ mit seiner komplett erhaltenen Alltagseinrichtung in „Momentaufnahme“. Im Zuge dessen beschreibt Zuchtriegel Begebenheiten aus seinem Alltag als Archäologe, etwa Überlegungen zu Ausstellungen, die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Presse, Raubgräber im Park und eigene Schwierigkeiten als junger Direktor. Seinen Antrieb findet er etwa in der Archäologie als Religionswissenschaft oder im „Seltenheitswert des Alltäglichen“: Das Leben im Moment des Ausbruchs wurde eingefroren, eine einzigartige Ausgangssituation. Ein interessanter Einblick wird auch in die Probleme seiner Fachkollegin Margarete Bieber (1879 – 1978) in der Archäologie als Männerdomäne gegeben.
Denjenigen, die an der Sinnhaftigkeit des Studiums der Antike zweifeln, bietet Zuchtriegel einige Überlegungen: Die Antike regt etwa zu einem Hinterfragen von gängigen Hierarchien und Gegebenheiten an, fördert die Konfrontation mit der eigenen Weltsicht und das abwägende Gespräch miteinander und zeigt denen, die sich mit ihr beschäftigen, auf, ein Produkt der Vergangenheit zu sein. Um herauszufinden, wie das sein kann, muss man das Buch selbst lesen. Zuchtriegel versteht sich hervorragend darauf, die Begeisterung für die Antike einzufangen.
Sogno di volare
Besonders berührend war das Kapitel über das Theaterprojekt „Sogno di volare“ („Der Traum vom Fliegen“), das von Zuchtriegel ins Leben gerufen wurde, um „junge Menschen an die Werte des Denkmalschutzes [heranzuführen]“. Die positiven Auswirkungen, für die Jugendlichen aus problematischen Verhältnissen ohne Bezug zu der antiken Stadt eine emotionale Verbindung zu Pompeji schaffen zu wollen, hinterlassen einen bleibenden Eindruck bei Leser*innen.
Erwähnenswert sind auch die sehr metaphernreiche Sprache, die Bebilderung zu den besprochenen Objekten und die Exkurse, beispielsweise zur Badekultur oder der Sexualmoral der Römer. Man darf sich durch diese teilweise weiten Abschweifungen vom eigentlichen Thema nicht irritieren lassen und muss sich von Zuchtriegel an der Hand nehmen und wie durch eine verwinkelte archäologische Stätte führen lassen. Zuverlässig wird man von ihm wieder zum Ausgangspunkt zurückgebracht.
Es war mir eine Ehre, dieses wunderbare Buch lesen zu dürfen und kann nur eine absolute Empfehlung aussprechen.
von Hannah Orth

Gabriel Zuchtriegel
Vom Zauber des Untergangs: Was Pompeji über uns erzählt
Propyläen Verlag 2023
240 Seiten
32,00 Euro
ISBN 978-3-549-10048-6