Dazwischen und Nirgendwo
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CW: Depressionen
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Schon im Alter von drei Jahren weiß die Protagonistin: Das Land zu verlassen, ist streng verboten. Dennoch wagen ihre Eltern den Versuch, wollen ihr Leben in der DDR hinter sich lassen und im Westen – dort, wo Oma und Tante väterlicherseits bereits warten – neu beginnen. Doch die Flucht scheitert und reißt die kleine Familie für Jahre auseinander: Während die Eltern in den Gefängnissen der Stasi landen, wird das Mädchen in ein Thüringer Kinderheim gebracht, bis seine Großmutter es abholt und großzieht. Nach drei langen Jahren überschlagen sich die Ereignisse und Vater, Mutter und Tochter finden sich nicht nur wiedervereint, sondern gleich im äußersten Westen wieder – mit neuen Freiheiten, aber auch neuen Grenzen.
Die Mauer im Herzen
Nach dem Freikauf durch die BRD wächst die Sechsjährige nicht mehr bei ihrer Großmutter in Leipzig, sondern in Aachen auf. Hier beginnt die eigentliche Handlung des Romans und erzählt vom Aufwachsen des Kindes, welches seinen Kosmos in beiden Staaten hat. Die Schönheiten der Freiheit im Westen – Urlaube in sonnigen Ländern und der ungehinderte Zugang zur Popkultur – stehen der Nostalgie und der Liebe zu den Wurzeln im Osten entgegen. Schnell wird deutlich, dass es sich hierbei um zwei Teile im Herzen der Protagonistin handelt, die unvereinbar scheinen und sich auch mit Mauerfall nie ganz auflösen: „Die beiden Welten draußen und drinnen berührten sich, sie existierten nebeneinander, ich konnte von einer in die andere schlüpfen, aber ich konnte sie nicht zusammenfügen.“
Auch die Eltern kämpfen mit den Nachwirkungen ihrer Vergangenheit: So versucht der Vater um jeden Preis, im Westen Gerechtigkeit für die Geschehnisse in DDR-Haft zu erlangen sowie gesellschaftlich Fuß zu fassen. Er übt unerlässlich, den sächsischen Dialekt und alles andere, was an seine Herkunft erinnert, hinter sich zu lassen. Umso verständnisloser ist er seiner Familie gegenüber, die sich schwerer mit dem Umschwung tut. Die Depressionen seiner Frau nach dem Trauma im Gefängnis sind für ihn im ‚blühenden‘ Westen paradox und unverständlich geworden.
Neumann erzählt feinfühlig von den Erfahrungen einer Familie, die nach ihrer Republikflucht nirgends ganz ankommt. Bei näherer Recherche handelt es sich hierbei um die Geschichte der Autorin selbst, die genau dieses Szenario wie viele andere Menschen durchlebte. Neben ihrer bemerkenswerten Schreibkunst, die sowohl die kindliche, heranwachsende als auch erwachsene Perspektive auf das Leben einfängt, gelingt es Neumann zudem, präzise die Emotionen, die mit der Ablehnung des Ostens und dem entgegengebrachten Desinteresse des Westens einhergehen, zu schildern.
Kein Ende und kein Neuanfang
Das Jahr ohne Sommer von Constanze Neumann zeichnet traumatische Biografiebrüche der DDR und ihres Untergangs nach, die generationsübergreifend wirkten und wirken. Die Vergangenheit haftet an den Figuren, von der sie sich auch nach Jahrzehnten in Freiheit nie ganz lossagen konnten. Und gerade das macht den Roman zu einem Leseerlebnis, welches von realen Ereignissen der neusten Geschichte und ihren Auswirkungen mit aller Sensibilität berichten vermag.
von Celine Buschbeck

Constanze Neumann
Das Jahr ohne Sommer
Ullstein 2024
192 Seiten
22,00 Euro
ISBN 978-3-550-20229-2