Im Gespräch mit Prof. Stefan Neuhaus, Gründungsmitglied des Rezensöhnchens
Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Neuhaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur und hauptamtlich Lehrender der Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz. Er studierte von 1986 bis 1991 Germanistik, Journalistik/Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft an der Uni Bamberg und ist gemeinsam mit weiteren Kommiliton*innen Gründer des Rezensöhnchens anno 1987.
RS: Gleich zu Beginn brennt uns auf der Seele, wie sich das Rezensöhnchen gegründet hat? Saßen Sie im Pizzini bei einem Bier oder können wir uns das eher wie eine Seminarrunde vorstellen?
SN: Das ist sogar ganz ähnlich gewesen. Ich komme ursprünglich aus Westfalen und habe im Wintersemester 86/87 das Studium angefangen in Bamberg. Ich wollte eigentlich Lehramt studieren, aber davon wurde mir abgeraten. Ich habe dann diesen Studiengang Diplom-Germanistik mit Schwerpunkt Journalistik in Bamberg gefunden und da stand auch mein Berufswunsch fest, eigentlich wollte ich Journalist werden. Ich habe einen Einführungskurs besucht bei Heide Hollmer. Für mich war das eine Augenöffnung. […]. Es war einfach toll, Frau Hollmer hatte das sehr inspirierend gemacht. Ich war mitgerissen. Ich hatte so und so immer wahnsinnig gerne gelesen und jetzt hatte ich auch endlich mal so eine Anleitung zum richtigen Lesen! Ich komme aus einem Elternhaus, in dem Lesen oder Literatur keine Rolle gespielt hat und somit war ich ganz happy. Ich habe dann mit anderen zusammen, die ebenfalls so begeistert waren wie ich, überlegt, was können wir aktiv tun, um unserer Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Wir haben mit Heide Hollmer zusammen überlegt, wie wir eine Zeitschrift machen, die irgendwas mit Literatur zu tun hat. Wir haben überlegt, wo ist sowas wie eine kleine Nische oder eine Marktlücke, irgendwas, was es so noch nicht gibt. Dann kamen wir auf die Idee, eine Rezensionszeitschrift für Studierende zu machen. Von Studierenden und für Studierende, ein offenes Format, und haben dann im Kurs gefragt, wer Lust hat, sich zu beteiligen. Das waren tatsächlich zehn Leute. Ich bin nicht der Erfinder des Namens, aber ich bin stolz darauf, dass ich sowas wie der ‚Geburtshelfer‘ bin. Eine Kommilitonin hatte diese Idee, weil wir Studierende sind und eben noch nicht so erwachsen, dass man Rezensionen verkleinern könnte, zu einem Diminutiv: RezenSöhnchen. Um die Beteiligung von Menschen daran zu verdeutlichen, das S groß zu schreiben, also das ‚Söhnchen‘ der Rezensent*innen. Natürlich kann man das auch so sehen, dass das das Produkt ist. Wir veröffentlichen Rezensionen und die sind ja irgendwie unsere Kinder. Es gibt beide Assoziationen. Ich fand das eine super Idee. […]
RS: Wie haben die Verlage überhaupt das Vertrauen gehabt, Leseexemplare zur Verfügung zu stellen? Haben Sie da einfach auf gut Glück angefragt oder wie ging das?
SN: Wir haben uns und unser Projekt vorgestellt und wir hatten von Anfang an eine Tausender-Auflage, das war relativ viel. Viele Verlage haben uns unterstützt, weil sie gesagt haben, das ist eine studentische Initiative und denen wollen wir irgendwie auch ein bisschen unter die Arme greifen. Andere Verlage haben uns aber tatsächlich auch keine Exemplare geschickt. Ich würde mal sagen, von drei Bitten um Rezensionsexemplare haben zwei das Buch geschickt. Manche haben gesagt, sie haben ihr Kontigent erschöpft oder so.
RS: Haben Sie in Ihrer Zeit noch mitbekommen, dass sich das etwas gewandelt hat, also dass man dann gemerkt hat, okay, das Rezensöhnchen wird bekannter?
SN: Ich glaube es war eher so, dass es für die, die viel mitgemacht haben, die sich wirklich auch reingehängt haben, auch lohnend war, weil sie eben sehr viel gelernt haben und auch Kontakte geknüpft haben. Die müssen sich nicht unmittelbar sofort ausgewirkt haben, können aber im weiteren Verlauf dann auch hilfreich gewesen sein.
RS: Das ist ein Statement, von Anfang an 1000 Stück drucken zu lassen. Haben Sie das dann einfach durch Mundpropaganda an Freund*innen weitergegeben, nach dem Motto: „Schaut mal, wir haben hier so ein Heft“? Aktuell legen wir es einfach nur aus und es läuft natürlich mittlerweile ganz viel Werbung über Instagram, dass wir sagen „Hey, das neue Heft ist da“. Wie war das bei Ihnen damals?
SN: Wir hatten eigentlich keine Konkurrenz, muss man ehrlich sagen. Wir waren da ganz allein auf weiter Flur und deshalb hatten wir auch dort gute Karten, wo wir dann um Geld gebeten haben. Die Buchhandlung Collibri wollte ein alternatives Verlagskonzept, so wie es das in den 1970ern öfter in Deutschland gab. Sie haben ein Verständnis von Verlagen gehabt, das nicht kommerziell erfolgreich sein musste. So eine Verlagshausbuchhandlung wie Collibri, die damals auch selbst angefangen hat, Bücher zu machen, fand das total unterstützenswert und war von Anfang an auch dabei. Sie haben auch immer sofort eine Anzeige geschaltet. Und davon gab es dann einige, die verlässliche Partner waren und von Anfang an eigentlich auch immer Geld gegeben haben. Eine ganze Seite kostete, wenn ich mich recht erinnere, damals 100 DM. Das war schon relativ viel für die damalige Zeit. Für ein Unternehmen, das das steuerlich wieder geltend machen kann, ist das jetzt auch nicht so ein Riesenbetrag, aber dadurch, dass wir dann Gesamtkosten hatten von 6/700 DM, brauchten wir dann nicht so viele Anzeigenseiten, um das auch zu stemmen. Es wurde manchmal ein bisschen eng, dann sind wir in den Außenbezirken von Autohaus zu Autohaus getigert. Studierende kaufen jetzt nicht, zumindest damals war es nicht so, unbedingt Autos. Manche haben dann trotzdem gesagt „Okay, wir machen da mit“ und auch vielleicht, um uns loszuwerden (schmunzelt). So haben wir dann die Seiten, die wir brauchten, immer irgendwie zusammengekriegt.
RS: Und die Ausgaben gingen auch alle weg? Also diese 1000 Stück haben Sie an Ihre Leser*innenschaft bekommen, es ist von den Studis gut aufgenommen worden?
SN: Wir haben viel verteilt, ausgelegt. Es gab, mehr noch als heute, Ständer, wo man Sachen reinlegen konnte. Die gab es damals überall und so haben wir das dann einfach ausgelegt. Immer mal wieder gekuckt: Liegt da noch was? Wenn da noch viel lag, haben wir es irgendwann mitgenommen und woanders hingetan und wenn da nichts mehr lag, haben wir was hingelegt, das funktionierte eigentlich ganz gut.
RS: Wie haben die Verlage überhaupt das Vertrauen gehabt, Leseexemplare zur Verfügung zu stellen? Haben Sie da einfach auf gut Glück angefragt oder wie ging das?
SN: Wir haben uns vorgestellt, unser Projekt vorgestellt und wir hatten ja auch von Anfang an, glaube ich, eine Tausender-Auflage, das war relativ viel und es gab auch Verlage. Ich denke viele Verlage haben uns unterstützt, weil sie gesagt haben, das ist eine studentische Initiative und denen wollen wir irgendwie auch ein bisschen unter die Arme greifen und andere Verlage haben uns aber tatsächlich auch keine Exemplare geschickt. Ich würde mal sagen, von drei Bitten um Rezensionsexemplare haben zwei auch immer uns das Buch geschickt. Wir haben aber auch konkret angefragt, immer gezielt bestimmte Veröffentlichungen angefragt. Manche haben gesagt: Sie haben ihr Kontigent erschöpft oder so.
RS: Haben Sie in Ihrer Zeit noch mitbekommen, dass sich das etwas gewandelt hat, also dass man dann gemerkt hat, okay, das Rezensöhnchen wird bekannter?
SN: Ich glaube, dass für die, die viel mitgemacht haben, die sich wirklich auch reingehängt haben, dass es für die auch lohnend war, weil sie eben sehr viel gelernt haben dadurch und aber auch Kontakte geknüpft haben. Die müssen sich nicht unmittelbar sofort ausgewirkt haben, können aber im weiteren Verlauf dann auch hilfreich gewesen sein.
RS: Wir haben unsere Domäne dann auch etwas ausgeweitet, sind mittlerweile auch auf Instagram vertreten. Wir haben aber auch gesehen, dass Sie nach wie vor rezensieren, zum Beispiel auf literaturkritik.at, und da Stellung bezogen haben zu einer Befürworterveröffentlichung der Online-Rezensionen. Im Kontext von fachlicher Expertise, Wertigkeit von Rezensionen z.B. auf Bookstagram im Verhältnis zu einem Literaturmagazin – möchten Sie dazu noch ein paar Worte verlieren?
SN: Das Wichtigste ist schon die Lust am Schreiben und die Lust am Lesen. Dass man aber auch gerade heute ja noch Recherchemöglichkeiten hat, dass man sich noch informieren sollte über Autorin oder Autor und über das bisherige Werk, das ist, glaube ich, Grundvoraussetzung und dann sollte eine Rezension ja auch bestimmte Anforderungen erfüllen. Ich habe das auf vier Funktionen mal versucht herunterzubrechen. Es ist natürlich wichtig, dass man den Leserinnen und Lesern einen Eindruck von dem Buch vermittelt, auch von den Kontexten: Autor, Werk, auch vielleicht, um welche Zeit geht es, welches Sujet es ist und so weiter und dann aber auch natürlich mehr oder weniger eine Empfehlung ausspricht. Man soll eine Wertung abgeben, aber nur Bewerten ist falsch und nur trockenes Wiedergeben ist ebenso verkehrt. Also man muss schon darauf gucken, dass man das beides verbindet und es soll natürlich auch Spaß machen, das zu lesen, das finde ich schon auch ganz wichtig. Wenn man das so macht, ist es für alle, also für die Leserinnen und Leser, schön. Es ist etwas, was man gerne liest, wovon man aber auch was hat und bei den Schreibenden ist es eben auch etwas, was für das Schreiben generell etwas bringt. Ich würde wirklich auch darauf bestehen, zu differenzieren zwischen Rezension und Kundenbewertung. Amazon veröffentlicht keine Rezensionen. Es gibt sicherlich einzelne Kundenbewertungen, die so gut sind wie Rezensionen. Das würde ich überhaupt nicht ausschließen, aber das sind Produktinformationen und Produktbewertungen, das sind keine Rezensionen. Und auch Booktuber sind so eine Grauzone, wo man gucken muss, um was geht’s hier eigentlich? Steht dahinter ein kommerzielles Interesse? Dann ist es meiner Ansicht nach eine Kundenbewertung. Steht dahinter ein im weiteren Sinne noch aufklärerisches Interesse, dass man eben informieren und auch einordnen möchte und das Kommerzielle nicht im Vordergrund steht? Man also kein Geld von dem Verlag bekommt, oder auch nicht 100 Bücher umsonst hat dafür, dann würde ich sagen, ist es eine Rezension. Ich glaube schon, die Frage des Kommerziellen ist eine heute wichtigere als früher, weil die Grenzen heute stärker verschwimmen als früher. Ich würde auch immer noch zu folgendem Satz stehen: Im Germanistikstudium lernt man nicht schreiben, aber trotzdem schreibt man die ganze Zeit und was dabei herauskommt, ist ja etwas, was dann auch kontinuierliches Schreiben über Gegenstände der Germanistik erfordert, und dafür ist sowas auch eine gute Schule.
Für literaturkritik.de rezensiere ich auch immer mal wieder noch. Der Gründer Dr. Thomas Anz war damals Professor für Literaturvermittlung in Bamberg, den ich auch gut kenne. Als ich Assistent war, habe ich mit ihm zu tun gehabt und er hat, als er nach Marburg ging von Bamberg aus, literaturkritik.de gegründet. Als ich in Innsbruck war, habe ich literaturkritik.at gegründet. Damals habe ich versucht, das mit finanziellem Rückhalt eigentlich als Print rauszubringen, aber das habe ich nicht geschafft. Ich bin zum Beispiel zur Volksbank gegangen oder zur Sparkasse. Die Banken haben gesagt, das hat keine Breitenwirkung. Also habe ich das mit einer Journalistin aus Österreich zusammen als Online-Zeitschrift konzipiert und es war und ist auch heute noch als Reflexionsmedium zur Literaturkritik gedacht, also keine Rezension von Literatur, sondern Texte über den Literaturbetrieb. Ob das weiterleben wird, weiß ich nicht.
RS: Wir haben, neben den Heftausausgaben, auf unserer Website die Möglichkeit, Rezensionen ohne Zeichenlimit zu veröffentlichen. Darüber hinaus nutzen wir unseren Instagram-Account, um auf die Website- und Heftrezensionen aufmerksam zu machen, veröffentlichen dort aber auch Kurzrezensionen oder Teaser. Wie sehen Sie den Diskurs dazu, dass aufgrund des Charakters von Instagram dort mehr Bücher ästhetisch ansprechend in die Kamera gehalten, anstatt dezidiert besprochen werden?
SN: Es geht ja vor allen Dingen erstmal darum, Aufmerksamkeit zu generieren. Wenn man die Aufmerksamkeit hat, kann man auch entsprechend nachliefern. Und dass man bestimmten Zwängen auch unterworfen ist, ist heute so wie damals. Ich glaube, das Entscheidende ist, dass man sich reflektiert.
RS: Ich erinnere mich gerade daran, als ich das erste Mal bei einem Stammtisch war und ein älteres Mitglied meinte, es brenne beinahe darauf, irgendwann einen Verriss zu schreiben.
SN: Ich habe schon Verrisse geschrieben und teilweise auch mit großer Genugtuung. Da muss aber auch wirklich eine Überzeugung dahinterstehen, dann muss man klar sagen können, warum das nicht funktioniert. Die Begründung ist eigentlich auch das Entscheidende, es reicht dann kein Geschmacksurteil. Es muss klar gesagt werden, was eigentlich die Kritikpunkte sind. Dann sind die Leserinnen und Leser gefordert, selbst zu überlegen und auch sich selbst zu entscheiden, gehe ich mit dieser Meinung mit oder nicht. Ich habe mal einen Roman verrissen, das war damals für die österreichischen Zeitung Furche. Das ist ein noch heute ziemlich bekannter Autor, der schrieb damals eine lange E-Mail, die eigentlich nur ein Verriss meiner Rezension war und so eine Art Gegenangriff. Dann habe ich nochmal versucht zu erklären, was mein Kritikpunkt daran ist und warum ich meine Rezension als eine‚ ‘sowohl als auch’-Besprechung empfand. Also kein Verriss, sondern Stärken und Schwächen. Das habe ich noch relativ freundlich formuliert, dachte ich, aber er hat das total als Verriss empfunden und dann kam also eine Breitseite und da hab ich schon freundlich, aber bestimmt geantwortet, was jetzt meine Kritikpunkte waren und warum ich das so geschrieben habe und daraufhin hat er dann nochmal geantwortet und irgendwann nach dem vierten Mal habe ich dann aufgehört zurückzuschreiben. Im Grunde glaube ich, wenn man sachlich bleibt, gerade bei Verrissen, dann ist man auf der sicheren Seite.
RS: Was genau hat Sie dazu bewegt, das Genre „Märchen“ als Forschungsgegenstand zu wählen? Mittlerweile existieren einige Re-Tellings griechischer Mythen bzw. eine Literaturbewegung dahin. Sehen Sie ein deutsches Pendant dazu, insoweit, dass es noch einmal aufgegriffen wird?
SN: Märchen sind mit Sagen vergleichbar. Es sind weitere Erzählungen, die sich frei an einem großen Reservoir von Motiven und Stoffen bedienen. Im Prinzip findet heute mit den neuen digitalen Medien nichts anderes statt. Nur vielleicht in einer verstärkten oder vielfältigeren Weise. Die Kinder- und Hausmärchen sind keine Aufzeichnungen von irgendwelchen mündlich überlieferten deutschen Märchen gewesen, das zu behaupten hatte ideologische Gründe. Sondern größtenteils verändert, nach Erzählungen, oder auch fusionierte Erzählungen verschiedener, größtenteils schriftsprachlicher Vorlagen. Mein Kollege Lothar Bluhm, mit dem ich das Handbuch Märchen gemacht habe, hat die gesamten Kinder- und Hausmärchen geprüft und viele Fälle gefunden, in denen die Grimms, wie man heute sagen würde, plagiiert haben. Ein Text ist sogar so gut wie identisch mit einer Vorlage, bis auf ein Wort. Damals war das kein Problem, es gab noch kein Copyright und ein ganz anderes Verständnis von Autorschaft. Was heute passiert, ist ganz interessant, weil es so ein bisschen dahin zurückgeht, wie es eigentlich früher war. Diese Stoffe waren nicht an bestimmte Autorinnen oder Autoren gebunden, sondern sie florierten frei in der Landschaft und wer Lust hatte, griff sich etwas, erzählte es weiter und erzählte es neu. Das eine war erfolgreich und das andere war weniger erfolgreich; das eine hat dann wieder inspiriert und das andere hat keinen mehr interessiert. Dem ist auch so mit der Open-Access-Diskussion, die wir haben. Das Copyright ist in der Form eigentlich ein Produkt des Zweiten Deutschen Kaiserreichs. Das, was wir als geistige Urheberschaft so feiern, was ja auch schön ist, ist nicht einmal 200 Jahre alt und vorher war das so, wie das viele heute auch praktizieren. Wenn man etwas toll findet, holt man sich was raus, erzählt das genau so im Prinzip wieder oder verändert es oder macht etwas Neues daraus. Die Technologien dahinter sind neu, aber nur, weil sich die Technologien verändern, verändern sich die Menschen jetzt nicht unbedingt in gleicher Weise.
RS: Durchaus als positiver Aufreger zu verstehen war, dass in Bamberg ein Taylor Swift-Seminar angeboten wird, als Kontrast zu den klassischen Themen. Wie greifen sie den Zeitgeist in ihren Seminaren auf?
SN: Ich mache zum Beispiel regelmäßig Seminare zu Lyrik und eine Gruppe wollte viele Rammstein-Texte machen. Dann haben wir eben ganz viele Rammstein-Texte besprochen. Ich versuche ein bisschen diverser damit umzugehen und beziehe auch deutsche Songtexte ein, z. B. Purple Schulz. Es gibt ja ganz viele bahnbrechende Text und Alben. Ich bin ein großer Verfechter neuer Klassiker. Zum Beispiel hat Fehlfarben mit Monarchie und Alltag Anfang der 80er Jahre eine Platte vorgelegt, die dann für ganz viele Stilrichtungen absolut wichtig wurde. Auch in der Poetikdozentur, die ich Anfang des Jahres mitgegründet habe. Wir gucken gerade, ob wir für die nächste Poetikdozentur im nächsten Jahr nicht auch Singer-Song-Writer kriegen. Wir hatten z. B. Marlene Streeruwitz oder Ulla Hahn, David Gieselmann und Arne Rautenberg.
Ich versuche immer so gut wie möglich, mir dann auch immer wieder Tipps geben zu lassen, z. B. den Song Barbaras Rhabarberbar. Es ist toll, davon ausgehend zeigen zu können, dass dies nach Prinzipien funktioniert, die es schon lange gibt. Das Lied baut auf Schüttelreimen, auf Wortspielen auf. Man findet die auch schon in der Lyrik seit Wilhelm Busch oder verstärkt bei Joachim Ringelnatz. Oder Christian Morgenstern. An neuen Texten kann man diese Traditionen sehr schön aufzeigen.
RS: Wie kann man sich das private Leseverhalten einer vielbeschäftigten Person vorstellen? Ist es überhaupt noch ein Hobby, sobald es in die berufliche Richtung geht?
SN: Es gibt viele Autorinnen und Autoren, – und ich bin jetzt kein Autor, aber ich schreibe ja relativ viel, – die gesagt haben „Meine Heimat ist die Sprache” und das würde ich auch so sehen. Ich bin sprachverliebt und auch sprachsüchtig. Mein Doktorvater Wulf Segebrecht hat eine Lektüreempfehlung in Buchform herausgegeben und im Vorwort erwähnt, „Ein Germanist liest alles auf“. Das war O-Ton Segebrecht und das stimmt. Sprache ist für mich einfach das Lebenselixier. […]
Fürs Lesen von Literatur habe ich echt wenig Zeit. Da muss ich gucken, dass ich das irgendwie in meinen Arbeitsplan integriere. Das macht großen Spaß und gerade auch Texte wiederzulesen. Ich schreibe momentan an verschiedenen Handbuch-Artikeln und aktuell an einem über E.T.A. Hoffmann. Wulf Segebrecht hat einmal eine Ausgabe für den Deutschen Klassiker Verlag gemacht. Da habe ich das komplette Konvolut mehrfach Korrektur gelesen. Wenn man das dann nach vielen Jahren wieder liest, entdeckt man immer wieder was Neues und freut sich auch wieder an der Sprache und an der Originalität. Diese Texte altern nicht, das ist großartig.
RS: Ich bin gespannt darauf, inwieweit unsere Rezensionen „altern” oder wie wir in fünf oder zehn Jahren darüber denken …
SN: Fehler passieren. Ich hatte auch eine interne Fehlerliste im Kopf. Da denke ich mir immer mal wieder, nein, wie konntest du. Aber das ist ganz normal; wo gehobelt wird, fallen Späne und man darf sich nicht selbst blockieren. Wenn man dann später mal sagt, das eine war echt ganz okay und das andere nicht, dann ist das ganz normal.
RS: Wenn Sie aus heutiger Perspektive auf ihre Studienzeit zurückblicken, welchen Tipp oder Ratschlag würden Sie Ihrem Ersti-Selbst mitgeben?
SN: Viel freiwillig machen. Das fällt Studierenden heute schwieriger, in ein engeres Korsett als damals eingeschnürt zu sein. Bei Ihnen in Bamberg gibt es viele Angebote, von der Poetikdozentur über Buchhandlungen oder Literaturfestivals. Ich lebe immer noch davon, dass ich so viel Möglichkeiten hatte, Veranstaltungen zu besuchen, die ich nicht hätte besuchen müssen. Es gibt ja auch Hochkultur zu günstigen Preisen. Sie haben unglaublich viel an kultureller Vielfalt und kulturelle Möglichkeiten und ich rate dazu, davon einfach so viel wie möglich mitzunehmen und sich dadurch bereichern zu lassen.
Oft sind die teuren Lesungen nicht die besten. Ich erinnere mich z. B. immer noch an das eine Studententheater in Gaustadt in einem Saal einer Kneipe. Die haben von Sartre Geschlossene Gesellschaft aufgeführt, das war großartig.
Das Gespräch wurde am 29. August 2024 von Miriam Mösl und Michaela Minder geführt

