„Die Schmerzen, die dich zerstört haben, seit du eine Teenagerin gewesen bist, scheinen mit den Defekten deiner Persönlichkeit verknüpft zu sein, mit der Kälte, die lediglich schmilzt, wenn du mit Ella zusammen bist.“
—
CW: Abtreibung, chronische Krankheit, Drogenkonsum, sexuell übergriffiges Verhalten
—
Madeline Docherty liefert mit ihrem Debütroman Erdbeeren und Zigarettenqualm eine schonungslose Auseinandersetzung mit den Grenzen von Freundinnenschaft, der chronischen Erkrankung Endometriose und der Härte des Erwachsenwerdens.
Die namenlose Protagonistin versucht in einer „[…] Routine aus [S]ich-Aufrappeln und Hinfallen“ ihre 20er zu bestreiten – gestützt von ihrer besten Freundin und Retterin in jeder Not, Ella. Scheiternde Beziehungen, ein schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern, berufliche Ziellosigkeit und mangelnde Selbstsicherheit erschweren die Selbstfindung der Protagonistin und sie sucht immer wieder Halt bei Ella. Eine schleichende Entfremdung der beiden Freundinnenschaft ist. Die Autorin fängt die Komplexität an Intensität und Intimität von Freundinnenschaft in den Jahren des Erwachsenwerdens eindringlich ein. Dabei schwingt auch die Bisexualität der Protagonistin und der verschwimmende Übergang von platonischer Verbundenheit und Begehren mit. Docherty schreckt nicht davor zurück all diese Dimensionen in ihrer Vielschichtigkeit zu verhandeln.
Beim Anblick deiner gynäkologischen Akte ist es „[…] kaum zu glauben, dass du zwischen den Textzeilen auf dem Bildschirm noch ein Leben gelebt hast. Aber hast du das denn?“
Ein ständiger Begleiter auf dem holprigen Weg zur Selbstfindung ist die authentische Abbildung von Endometriose. Docherty zeigt welche Odyssee Betroffenen bewältigen müssen, bis es zu einer Diagnose der unheilbaren Entzündung kommt. Die Autorin fängt die Hilflosigkeit, die zermürbenden Schmerzen, den Spießroutenlauf der Reaktionen anderer, die Gefühle der Scham, des Versagens und des Verrates des eigenen Körpers eindrücklich ein. Die weitreichenden physischen wie psychischen Auswirkungen einer solchen chronischen Erkrankung, die auch das soziale und berufliche Leben beeinflussen, werden anhand der Protagonistin deutlich gemacht. Dank Docherty trägt Erdbeeren und Zigarettenqualm zur Sichtbarkeit von Endometriose in zeitgenössischer Belletristik bei.
„[…] und du fragst dich, ob es für immer so schwer bleiben wird, dich selbst zu mögen, eine konstante Aufgabe.“
Der englische Originaltitel Gender Theory lässt auf eine dezidiertere Auseinandersetzung mit Sexualität und Identität schließen. Das bewahrheitet sich nur bedingt. Entgegen verschiedenen lesbischen Erfahrungen dominiert doch das Heteronormative und eine gewisse Wertigkeit schwingt im Vergleich von zwei langfristigen Partner*innen mit. Diese Schwäche des Romans zeigt, dass trotz der bereichernden Bestrebung die Multidimensionalität der Kämpfe der Protagonistin abzubilden, in der Konsequenz nicht alle Dynamiken zufriedenstellend austariert werden.
Besonders markant ist der konsequente Erzählstil in der zweiten Person Singular. Dadurch erreicht Docherty eine ganz bestimmte Nähe zwischen Leserin und Protagonistin. Die Ebenen der Belastbarkeit von Freundinnenschaft, des Strauchelns auf dem Weg zu sich selbst, des Leidenswegs einer chronischen Krankheit sowie der selbstzerstörerischen Eskapismusversuche bieten ein breites Identifikationspotential für die Leserinnenschaft. Es liegt nahe, dass sich jede*r in einem oder mehreren Erfahrungen der Protagonistin selbst sehen kann. Dies wird durch die genannte Erzählinstanz Dochertys amplifiziert und mit dem sprachlichen Vermögen, komplexe Gefühle in besonders eindrucksvolle Sätze und Bilder zu gießen, zur Vollendung gebracht. Daher eine ausdrückliche Empfehlung für Erdbeeren und Zigarettenqualm von Madeline Docherty!
von Michaela Minder

Madeline Docherty
Erdbeeren und Zigarettenqualm
Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer
Ecco 2025
224 Seiten
18,00 Euro
ISBN: 9783753001142