„Transition […] ist eine existenzielle Migration, an deren Ende nicht notwendigerweise dieser oder jener Körper steht, auch wenn hierauf wir uns alle stürzen, sondern die Erfüllung einer Hoffnung […]: Es war gut, gelebt zu haben, gut, ich gewesen zu sein, es zumindest versucht zu haben […].“
—
CW: Dissoziation, Geschlechtsdysphorie, Queerfeindlichkeit, Suizid
—
Myriam Sauer erzählt in ihrem Debütroman Passage durch den reißenden Strom von einer Transition. Im ersten Teil des Romans, Wellen, ist Protagonistin Rachel noch die Suchende – in Die offene See wird sie zur Angekommenen. Als trans* Frau lebt sie zusammen mit ihrem Partner Noah in Berlin, umgeben von ihrer gemeinsamen queeren Freundesgruppe, bestehend aus Finn und Luca. Als Leser*in darf man sie begleiten auf ihrer Transition – und all den Widrigkeiten dabei.
Rachel setzt sich überwiegend mit der Frage auseinander, wie sie ihre Transition gestalten möchte: Microdosing der Hormone, eine geschlechtsangleichende Operation – und das beharrende Gefühl „[…] noch immer viel zu weit am Anfang“ zu sein. Eigene Wahrnehmung, mit Hoffnung beladene Vorstellungen und die Rezeption des Umfelds stehen in andauernder Konkurrenz und erschweren es, den richtigen Weg für sich selbst zu finden. Dieses Spannungsverhältnis bildet Sauer eindrücklich ab und bringt zum Ausdruck, dass es nicht die eine Transition gibt, sondern die Individualität inhärent ist. Rachel versucht immer wieder, ihre Identität zu definieren. Anfangs beharrt sie noch darauf eine schwule Frau zu sein, denn „das mit dem Schwul sein [lässt sie sich] nicht nehmen“, kommt aber auch zur Abwägung inwiefern eine Definition auch Limitation sein kann: „Was hat mir dieses Label zu sagen, zwingt es mich nicht in ein Gefängnis?“
„[…] denn die Umarmung Noahs ist nicht länger die eines Liebenden, nur mehr die eines genervten, angestrengten Freundes.“
Die Autorin fängt die Multidimensionalität von Transition und trans* Identität ein. Die Ich-Bezogenheit, die die Protagonistin im Strudel ihrer Transition an den Tag legt, und folglich die Auswirkungen dessen auf ihr soziales Gefüge ziehen sich durch den gesamten Roman. Ein elementarer Bestandteil der Erzählung ist, wie Rachels Transition die Dynamik mit Partner Noah verändert. Sauer zeigt auf, wie dadurch die romantische und sexuelle Beziehung zueinander verloren gehen kann. Besonders eindrücklich beschreibt die Autorin das zwangsläufige wie zwanghafte stetige Vergleichen Rachels mit anderen cis sowie trans* Menschen, ein „aggressives Clocken“ bei Letzteren, also dem Analysieren des trans* Status einer anderen Person. Auch Begehren, Attraktivität und Bestätigung werden in den Kontext von Transition und trans* Identität gesetzt. Besonders die Konflikte innerhalb der queeren bzw. trans* Community arbeitet Sauer fein heraus: die Diskrepanz zwischen trans*Frauen und trans*Männern, die „Sünde […], die allzu viele trans* Männer ihr eigen nennen, wenn sie eine trans* Frau kennenlernen, die eben sich geoutet hat: ihr munter das Frausein erklären“, oder die Nuancen, inwiefern auch innerhalb der queeren Community Misogynie existiert. Dieser erweiterte Blick lässt Passage durch den reißenden Strom mehr als „nur“ eine Transitionserzählung sein.
Metaphorik und Symbolik
Passage durch den reißenden Strom ist nicht primär plot-driven, auch wenn es sehr wohl einen plot gibt. Viel mehr gibt Sauer der Sprache, mit der die Erzählung transportiert wird, Raum. Die Autorin erzählt Rachels Transitionsgeschichte mit einer lyrischen Sprache, die sich viel in der Introspektion sowie der Reflektion bewegt und besonders reich an Symbolik ist. Natur und Körper bzw. Identität werden zu Metaphern verwoben und Wasser dient auch abseits des Titels als Sujet zur Projektion und Verbildlichung des Inneren der Protagonistin. In der Konsequenz verlangsamen die ausschweifenden Sequenzen, die die Gedankenwelt der Protagonistin zeichnen, den Roman. Die fast essayhaften Ausführungen können die Zugänglichkeit des Textes kompromittieren, aber durch die Einbettung in die Szenen der Realität von Rachel, Noah, Finn und Luca wird der*die Leser*in nicht verloren.
Eine Empfehlung für diese differenzierte Erzählung einer Transition, deren lyrische Sprache fordert, aber auch belohnt!
von Michaela Minder

Myriam Sauer
Passage durch den reißenden Strom
Querverlag 2023
336 Seiten
24,00 Euro
ISBN 978-3-89656-331-6