Katharina Seck – Was wir nicht kommen sahen
Katharina Seck – Was wir nicht kommen sahen

Katharina Seck – Was wir nicht kommen sahen

Was tun, wenn sich die eigene Tochter aus dem Leben verabschiedet?


CW: Bedrohung, Beleidigung, Bodyshaming, Catfishing, Fremdenfeindlichkeit, Doxing, Drogenmissbrauch, Misogynie, Mobbing, Rassismus, sexualisierte Belästigung, Suizid, Stalking

Katharina Seck widmet sich in ihrem neuen Roman Was wir nicht kommen sahen den Themen Cybermobbing, Misogynie, Rechtsdruck und Jugendschutz. Im Zentrum der Erzählung steht eine kleine Familie, deren achtzehnjährige Tochter Ada sich eines Abends von einer Brücke stürzt. Im Laufe des Buches werden die Ursachen aufgeklärt und es wird beschrieben, wie ihre Eltern damit umgehen. Während der Vater seine Trauer in Arbeit ertränkt, beginnt die Mutter eine intensive Recherche. Die Handlung wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt und springt zwischen Ereignissen vor und nach dem Tod von Ada hin und her, wodurch sehr effektiv Spannung aufgebaut wird. Die Mechanismen hinter dem Cybermobbing werden mithilfe von anonymen Passagen der Täter*innen aufgeklärt und der Autorin gelingt es, gezielt diese Täter*innen in den Blick zu nehmen. Man erfährt detailliert ihre Beweggründe und erhält Informationen über Doxing (Veröffentlichung von persönlichen Daten), Swatting (Vortäuschung eines Notrufes) und Catfishing (Täuschung durch gefälschte Identität).

Auf 368 Seiten entfaltet Katharina Seck eine umfassende Systemkritik an der aktuellen Gesellschaft, die leider nur mit viel Vorwissen vollständig verstanden werden kann. Der Roman wirkt überladen und gibt nicht allen Themen ausreichend Raum. Obwohl die Autorin bewusst Leser*innen adressiert, die sich bisher noch nicht oder nur wenig mit dem Thema Cybermobbing und den Zusammenhängen mit rechten Meinungen und patriarchalen Strukturen beschäftigt haben, fehlt es an ausführlichen Erklärungen. Eine genaue Betrachtung liegt nur im Bezug zu Misogynie vor, da sich Ada diesem Thema in einem ihrer Streams widmet. Oft stellt die Autorin ihre progressive und feministische Meinung mithilfe des auktorialen Erzählers in den Vordergrund, aber es sind kaum differenzierte Argumente zu finden. Obwohl das Buch in keinem Zusammenhang mit der Corona-Pandemie steht, wird zum Beispiel Kritik an Verschwörungstheorien und Querdenkern geübt, die jedoch oberflächlich bleibt. Die Nachbarn der Familie sind Querdenker, spielen im Buch aber nur eine kleine Nebenrolle, sodass eine thematische Vertiefung und diskursive Betrachtung gar nicht möglich sind.

„Sie wissen, dass Cybermobbing per se keinen Straftatbestand erfüllt, oder?“

Ada ist Streamerin, aber leider geht es in den Rückblenden und den Analysen der Streams durch die Mutter kaum um ihre Aktivität als Gamerin, sondern ausschließlich um die Kommentarspalte und die Reaktion ihrer Freundesgruppe auf die Entwicklungen im Netz. Der Plot verliert dadurch an Eigenständigkeit und Unterhaltungswert. Streckenweise wirkt der Roman eher wie ein politischer Essay. Die Bedeutung der Streams für Ada und die damit ausgelöste Verzweiflung ist für Leser*innen nicht so leicht nachvollziehbar. Man fragt sich, warum sie trotz massivem Hass an den Streams festhält.

„Seit wann muss man sich alles gefallen lassen, nur weil man irgendwo sein Gesicht in die Kamera hält, hä? […] Eine Öffentlichkeit zu haben ist doch kein Freifahrtschein für andere, sich übergriffig zu verhalten.“

Trotz der Schwere der Themen liest sich der Roman schnell und ist besonders im Mittelteil so spannend, dass man ihn gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Das Ende ist hingegen recht vorhersehbar. Zwischendurch macht das Buch wütend, weil deutlich wird, wie lückenhaft die Strafverfolgung ist und wie wenig Wirkung Anzeigen gegen digitale Straftaten haben. Damit wird wichtige Aufklärungsarbeit geleistet, die hoffentlich irgendwann dazu führt, dass Cybermobbing ernstgenommen wird.  Lobend hervorzuheben ist der gelungene Buchsatz, der die Chatverläufe visuell hervorhebt, sodass unterschiedliche Konversationen leicht nachvollzogen und voneinander unterschieden werden können.

Aufgrund der Relevanz der Themen ist das Buch trotz Schwachstellen zu empfehlen.

von Jasmin Fuchs

Katharina Seck
Was wir nicht kommen sahen
Bastei Lübbe 2024
368 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-7577-0069-0

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