Stefan Zweig – Clarissa
Stefan Zweig – Clarissa

Stefan Zweig – Clarissa

Nur Diagnose, keine Therapie

CW: Fremdenfeindlichkeit, Kindesvernachlässigung, Krieg, Traumata

Der als unvollendetes Fragment hinterlassene dritte Roman Stefan Zweigs – posthum als Clarissa betitelt und veröffentlicht – zeugt vom Leben der gleichnamigen Offizierstochter, die sich, um die Jahrhundertwende aufwachsend, in den Kämpfen der Zeit zu behaupten versucht, bis ein andersartiger Kampf zuvor nicht bekannter Größenordnung das aufblühende Leben zurückschmeißt: der erste Weltkrieg. Auf ein uneheliches Kind folgen eine Vernunftehe und zunehmende Isolierung.

„Die toten Jahre. Nur das Kind.“

Zweig schildert eine Gesellschaft der Gegenwelten, ein Spielfeld auf dem der Einzelne wie ein Ball hin und her getrieben wird; das Beobachtungsobjekt: Clarissa Schuhmeister. Anhand ihres Lebens diagnostiziert er die Stärkung und den Verfall europäischer Einheit. Denn als Sekretärin des Nervenarztes Prof. Silberstein findet sie mit zunehmender Vernetzung Gleichgesinnter auf einem europaweiten pädagogischen Kongress in Luzern immer mehr zu sich selbst, während das Wüten des Krieges zum Zusammenbruch europäischer Beziehungen und somit ihrer selbst führt. Damit ist die Tragik des Geschilderten, fernab der reinen Handlung, eine hochaktuelle: Einheit oder Spaltung? Das europäische Bewusstsein – symbolisiert durch das Kind Clarissas, das zwei Nationen vereint – wird trotz der Liebe und des Verlangens zweier Menschen dem Nationalismus untergeordnet und damit unter dem Dach einer Zweckehe verleugnet.

Fragment und Skizze

Entgegen aller anderen Werke Stefan Zweigs bietet Clarissa keinen fließenden Lesegenuss im herkömmlichen Sinne. Dazu ist der während des brasilianischen Exils (September 1941 – Februar 1942, Petrópolis) entstandene „erste Entwurf“ zu skizzenhaft im Anfangsstadium stehengeblieben. Darauf deuten zahlreiche stichpunktartig nicht ausformulierte und vor allem grammatikalisch unfertige Textpassagen, sowie einzelne Sinnfehler, das Ändern vieler Namen im Originalmanuskript und der plötzliche Stopp der Geschichte nach etwa 150 Seiten.  

Die Edition des Fragments aus dem Zsolnay-Verlag beließ den Text größtenteils identisch mit Zweigs handgeschriebenem Ursprung, bietet dazu jedoch noch einen über 150-seitigen Anhang mit Informationen über Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte, Zweigs eigenständigen Textzusätzen, einem textgenetischem Apparat sowie ausführlichem Stellenkommentar und eignet sich dadurch gut für tiefe Einblicke in die Arbeitsweisen des großen Schriftstellers Stefan Zweig, vor allem zum Zweck wissenschaftlicher Arbeiten.

So kommt es, dass das Fragment eine Brücke schlägt zwischen den Lesenden und der Protagonistin: Während bei ihr die Fäden der großen Liebe auch in die Existenz des unehelichen Kindes und der Scheinehe ragen und wirken, finden sich Erstere vor einem unvollendeten Schatz, dessen Glanz sich vor allem daraus speist, dass die Vorstellung des „Was-hätte-sein-können“ besteht. Diese Brücke trägt die aus einem Brief kurz vor seinem Freitod stammenden Worte des Autors selbst: „Gestört durch die Ereignisse und die Unfreiheit meiner Existenz.“

von Samuel Langlitz

Stefan Zweig 
Clarissa  
Herausgegeben von Simone Lettner und Werner Michler
Zsolnay 2024 
304 Seiten  
34,00 Euro  
ISBN 978-3-552-05879-8

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