„Wenn du dich verläufst: Setz dich hin und schrei!“
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CW: Alkoholkonsum, Emotionaler Missbrauch, Sexismus, Trauer, Trauma
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Zwei Kinder aus derselben wohlhabenden Familie werden in Liz Moores Roman Der Gott des Waldes vermisst. Bruder und Schwester verschwinden im Abstand von etwa vierzehn Jahren aus dem exklusiven Sommercamp ihrer Eltern in den Wäldern der Adirondacks. Zunächst ist es der ältere Bruder Bear, der in den 1960er Jahren eines Tages spurlos aus dem Camp verschwindet. Der Fall gilt bald als abgeschlossen – zumindest offiziell. Doch als Jahre später auch seine jüngere Schwester Barbara unter mysteriösen Umständen nicht mehr auffindbar ist, beginnt sich ein düsteres Muster abzuzeichnen. War die damalige Aufklärung tatsächlich stichhaltig? Oder wurde etwas vertuscht? Die Verbindung zwischen den beiden Vorfällen drängt sich unaufhaltsam auf, und mit jeder Seite verdichten sich die Hinweise auf ein viel tiefer liegendes Geheimnis.
„In der Natur ist jede Entscheidung unumkehrbar, und manche führt geradewegs in die Katastrophe.“
Mit einer zurückhaltenden, aber stetig wachsenden Spannung führt Liz Moore durch die verschiedenen Zeitebenen und Perspektiven, legt Schicht für Schicht eines dichten Geflechts aus familiären Traumata, verdrängten Wahrheiten und gesellschaftlichen Zwängen frei.
Der Roman entfaltet seine Wirkung dabei nicht nur durch den Kriminalfall selbst, sondern besonders durch seine feinfühlige Zeichnung der Charaktere und das Einweben gesellschaftlicher Themen – allen voran die Rolle der Frau im Amerika der 1970er Jahre.
Moore zeigt eindrücklich, wie sich Frauenfiguren innerhalb der Geschichte gegen starre Geschlechterbilder behaupten müssen – und wie unterschiedlich ihnen das gelingt. Einige Frauenfiguren fügen sich scheinbar klaglos in das vorgegebene Bild von Ehefrau, Mutter oder Dienstbotin ein, während andere versuchen, sich Freiräume zu erkämpfen – sei es im Beruf, in Beziehungen oder durch stille Rebellion gegen das klassistische System, das sie umgibt. Besonders spannend ist, wie subtil Moore diese Entwicklungen schildert: nicht als laute Emanzipation, sondern als stilles Ringen um Selbstbestimmung in einem Umfeld, das von Männern dominiert wird – sei es in der Polizei, im familiären Patriarchat oder in den Hierarchien der Elite.
Auch andere gesellschaftliche Spannungen durchziehen das Buch: Alkoholismus, elterlicher Leistungsdruck, psychische Erkrankungen und vor allem der Kontrast zwischen der Welt der Superreichen – mit ihren abgeschotteten Privilegien und Machtmitteln – und den Angestellten, die im Camp arbeiten, dienen, schweigen müssen.
Sobald man sich einen Überblick über die zahlreichen Figuren und den klug konstruierten Aufbau verschafft hat, lässt der Roman einen nicht mehr los. Die kurzen Kapitel, oft aus wechselnden Perspektiven erzählt, laden dazu ein, immer noch ein weiteres zu lesen – und dann noch eins. Der Roman springt dabei geschickt zwischen Zeiten und Sichtweisen, bleibt aber immer lesbar und atmosphärisch dicht.
Der Gott des Waldes ist kein klassischer Thriller, sondern ein tiefgründiger literarischer Spannungsroman, der psychologische Tiefe mit gesellschaftlichem Feingefühl verbindet. Liz Moore gelingt es, ein vielschichtiges Bild einer Familie – und einer Gesellschaft im Wandel – zu zeichnen. Die Fragen nach Schuld, Wahrheit und Schweigen hallen lange nach. Ein kraftvoller, ruhiger Pageturner, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte.
von Nele-Christin Schäffauer
Liz Moore
Der Gott des Waldes
Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
C.H. Beck 2025
590 Seiten
26,00 Euro
ISBN 978-3-406-82977-2
