„Wir waren doch liebevolle Eltern oder nicht.“
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Acht Kinder erschossen. Der Täter selbst begeht anschließend Selbstmord. Ort des Grauens – eine Schule. Amoklauf. Solche Horrorszenarien sind leider Realität und nehmen Spuren des Alltäglichen an, wenn man beispielsweise nach Amerika blickt. Aber auch München, Halle oder Hanau sind bekannte Vorfälle in Deutschland, welche von Gewaltakten zeugen, die durch eine bestimmte Ideologie motiviert waren.
„Einsame Wölfe“ werden die Täter genannt, und dennoch wird die Diskussion über ideologische Netzwerke, die vor allem online diskriminierende und hasserfüllte Denkweisen verbreiten, immer lauter. Einzeltäter ja, aber unterstützt durch eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, die sich gegenseitig in ihrem Hass gegenüber Frauen, anderen ethnischen Gruppen und vor allem sich selbst befeuern, welcher dann letztlich in der Tat gipfelt.
Leben mit dem Unvorstellbaren
In „Tiefer Grund“ von Björn SC Deigner sind die Eltern eines solchen Amokläufers der Tat ihres Sohnes, aber auch dem Verlust ihres Kindes ausgesetzt. Zu Beginn des Stücks liegt der Amoklauf des fünfzehnjährigen Erik acht Jahre in der Vergangenheit. Seine Eltern treffen sich zu seinem 23. Geburtstag in einem Wald, wo ein Baum Eriks gedenken soll. Erst ist das Gespräch hölzern; die beiden haben sich seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, voneinander entfernt und sind unsicher – im Umgang miteinander und mit der Situation. Doch allmählich, als sie sich gemeinsam erinnern, an die Zeit unmittelbar vor und nach der Tat, kommen auch die Emotionen wieder hoch, die beide seit all den Jahren mit sich tragen. Wie konnten sie nichts merken? Sicher gab es Anzeichen, im Nachhinein betrachtet, doch ist es nicht normal für Jugendliche, weniger Zeit mit den Eltern zu verbringen, mehr in sich gekehrt zu sein? Hätte die Mutter einmal öfter das Gespräch suchen, der Vater einmal weniger auf Dienstreise gehen sollen, um Zeit mit seinem Sohn zu verbringen? Wenn sie jetzt mit Erik sprechen, sprechen sie dann mit einem Fünfzehn- oder Dreiundzwanzigjährigen? Es wird schnell klar, dass Eriks Eltern die Vergangenheit noch nicht verarbeitet haben, sie wahrscheinlich nie vollständig verarbeiten werden.
Die Unterhaltung im Wald wird immer wieder von Rückblenden unterbrochen, Szenen kurz vor und nach der Tat. Die Ehe der Eltern, die nach dem Amoklauf auseinanderging, war schon zuvor am Bröckeln und wird jetzt in ihren Grundzügen erschüttert. Beide stellen sich die verzweifelte Frage: „Wir waren doch liebevolle Eltern oder nicht“. Die eigenen Vorwürfe in der Erziehung etwas falsch gemacht zu haben, als Eltern versagt zu haben, zerfressen auch nach all den Jahren noch das Gewissen. Und dennoch existieren für die Eltern zwei Söhne. Ein Erik vor der Tat, der sich von der Mutter auf die Stirn küssen ließ. Und Erik, der Täter, psychisch krank, verblendet von Selbsthass, Rassismus und Misogynie. Dieser Erik wird für die Eltern zu einem neuen Menschen, der nicht mehr ihr Sohn sein kann.
Als der Druck durch das Umfeld zu groß wird, entschließen sie sich nach einigem Zögern zu einem Umzug und gleichzeitig zur Trennung, die Trauer so unterschiedlich und einnehmend, dass für eine Beziehung kein Platz mehr ist. Der Vater richtet seine ganze Kraft auf eine Zukunft, auf ein Weitermachen aus. „Aber wir sind noch am Leben“, sagt er, „mit dir will ich weiterleben.“ Für die Mutter gibt es zunächst erstmal kein Leben ohne Erik und sie versucht Halt in Tabletten zu finden. Gegenseitig gibt es kein Verständnis für die Art des anderen zu trauern und zu verarbeiten. Dürfen sie Eriks Zuhause hinter sich lassen? Was sollen sie der Presse sagen? In keinem Punkt sind sie sich einig. Parallel zum Konflikt mit dem „richtigen“ Andenken an Erik ist jeder Dialog durchzogen vom Konflikt innerhalb der Ehe, welcher durch die neue Situation eskaliert. Und doch ist ihr Gespräch im Wald nicht zuletzt von unterschwingendem Respekt und gegenseitiger Anerkennung geprägt. Sie haben diese Zeit überstanden und schätzen in der Retrospektive die Unterstützung des anderen. Die Mutter unternimmt vorsichtige Schritte zurück ins Leben, schreibt an einem Buch über ihre Erfahrungen. Der Vater wünscht sich, die Uhr zurückdrehen zu können. Gemeinsam überlegen sie, wie Eriks Leben heute als junger Erwachsener aussehen könnte, wie sie wohl heute seinen Geburtstag feiern würden, wenn alles anders gekommen wäre.
Bühne für Emotionen
Das Bühnenbild ist sehr einfach gehalten und gibt den beiden Figuren den nötigen Raum, um den Fokus auf den inneren Konflikt zu lenken. Zwei Leinwände werden von den Schauspieler*innen immer wieder umgestellt, je nachdem, ob eine Szene im Wald oder in ihrem Haus gezeigt wird. So bleibt auch der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart stets nachvollziehbar.
Als Publikum glaubt man, zu wissen, was eine*n erwartet, man ist sich der emotionalen Intensität, der moralischen Zerrissenheit bewusst, und dennoch wird man erschlagen von der Authentizität der Inszenierung und Umsetzung. Trauer, Wut, Selbstvorwürfe, Fassungslosigkeit, Hilfslosigkeit, Schmerz, Angst, Einsamkeit und lähmende Verzweiflung spürt man unfassbar nah. Allerdings schafft es das Stück ebenso zarte Fäden der Hoffnung, der Annäherung, der Aussicht auf eine Zukunft in die Erzählung zu spannen. Und so ist es nicht einfach, „Tiefer Grund“ anzuschauen, und das darf und soll es auch nicht sein. Das Stück wird seinem Namen und seiner Thematik gerecht und lässt sich deshalb mit Nachdruck empfehlen!
Weitere Termine: 16.11. / 17.11. / 18.11. / 08.12. / 09.12./ 10.12. / 21.12. / 27.12
von Michaela Minder und Victoria Müller
© Birgit Hupfeld: Barbara Wurster in „tiefer Grund“