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Am 10. Februar 2023 veranstaltete das E.T.A. Hoffmann-Theater eine Lesung mit Veronika Kracher, die ihr Buch Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults vorstellte. Darüber hinaus arbeitet Kracher in der Rechtsextremismusprävention und forscht außerdem zum Feminismus, Patriarchat, Antisemitismus, zur Literaturtheorie sowie Popkultur.
Selbsthass als Waffe
Die Lesung beginnt mit einem einleitenden Gespräch, in welchem auf die potentiell triggernden Inhalte der Thematik hingewiesen und das Angebot des Ausweichens auf andere Textstellen gemacht wird. Veronika Kracher schafft damit einen Raum, in dem die Grenzen des Publikums respektiert werden und der Inhalt trotzdem nicht beschönigt oder verharmlost wird. So beginnt eine Odyssee durch die Abgründe von Krachers Forschung in Onlineforen von Incels, in welchen sich Antifeminismus mit Antisemitismus verbinden und auch schnell in Verschwörungsideologien enden. Während der Lesung verzichtet Veronika Kracher bewusst auf die namentliche Nennung von Incel-Terroristen, wenn sie über die zahlreichen Anschläge (besonders in Nordamerika) spricht, um den Tätern keine Bühne zu bieten. Die in der Incel-Kultur dominierende toxische Männlichkeit bildet einen Baustein in einem Konstrukt aus Rassismus, Sexismus und Kolonialismus, für das gerade junge, frustrierte und isolierte Männer empfänglich sind – nicht zuletzt konnte man dies beispielsweise an Andrew Tate beobachten, der vor seiner Inhaftierung als sogenannter Pick-up-Artist misogyne Hetze verbreitete. Kracher erklärt weiter, dass sich Incels in besagten Foren in ihrer Selbstwahrnehmung als unattraktiv, unerfolgreich und nicht liebenswert suhlen und gegenseitig bekräftigen. Die Schuld wird im Allgemeinen Frauen zugeschoben, da sie die eigentlichen Täterinnen seien, in dem sie die Männer zum unfreiwilligen Zölibat zwingen. Hier kommt die Annahme von Sex als integraler Bestandteil performativer Männlichkeit zu tragen. Der vorherrschende Diskurs ist heterosexuell und cisgeschlechtlich geprägt, Queerness wird lediglich zur Konstruktion des Feindbilds genutzt. Die Folge davon ist das gegenseitige Unterstützen dieser Denkweise und dem Motivieren zu Gewalttaten, was in Attentaten mündet, bei denen zum heutigen Stand über 60 Menschen weltweit ermordet wurden. Krachers Ausführungen zur Incel-Kultur sind erschreckend und verstörend zugleich – im Publikum vernimmt man mal ein Kopfschütteln, mal ein ironisches Lachen, aber immer wieder auch eine gewisse Sprach- und Fassungslosigkeit.
Prävention und Appell
Ziel Krachers Arbeit ist es, ein Bewusstsein darüber zu schaffen, welche Terrorismusgefahr von Incels ausgeht, Aufklärung über die Kultur und selbstverständlich Prävention zu leisten. Letzteres ist so herausfordernd, da die patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft – durch die Frauenhass weit verbreitet und nicht nur bei Incels zu finden sind – sowie ein toxisches Männlichkeitsbild die Incel-Bewegung fördern. Kracher weist mit Nachdruck darauf hin, dass mentale Gesundheit oftmals ausgeblendet wird, wenn über die verzerrte Wahrnehmung in Incel-Kreisen gesprochen wird. Selbsterniedrigung trifft auf narzisstische Selbstüberhöhung und hat eine gefährliche Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zur Folge.
Schlussendlich appelliert Veronika Kracher gerade an die Männer im Publikum, dass die jahrhundertelangen feministischen Kämpfe von Frauen anzuerkennen und patriarchale Strukturen zu hinterfragen sind. Gerade mit Ideologien wie jener der Incels muss sich gesamtgesellschaftlich kritisch auseinandergesetzt werden. Veronika Kracher leistet mit ihrer Forschung einen entscheidenden Beitrag dazu. Ihr Engagement wird besonders deutlich, indem sie im Anschluss an die Lesung dem Publikum Raum für Fragen und Anregungen gibt, detailliert und mit viel Einfühlungsvermögen antwortet. Kracher verdeutlicht schlussendlich, dass politische, progressive Arbeit zwar anstrengend, aber unbedingt notwendig ist.
Wer sich näher mit der Forschung von Veronika Kracher auseinandersetzen möchte, dem sei ihr Buch Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults weiterzuempfehlen – keine leichte, aber essenzielle Lektüre zur Incel-Kultur. Und wer einen Einblick in die Thematik am Theater erhalten möchte, dem sind die letzten Vorstellungen von Björn SC Deigner’s Tiefer Grund am 19. Und 23. Februar 2023 um jeweils 20 Uhr am E.T.A.-Hoffmann Theater zu empfehlen. Unsere Besprechung dazu findet ihr hier.
Von Karina Hein und Michaela Minder