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“Dein Leben, das eigentlich über mein Leben geht”
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Content Warning: Abtreibung, Krankheit, Kunstblut, Lichteffekte, Tod (Altersempfehlung ab 18)
Wer ist Kathy Acker? Biographische Annäherungen an die US-amerikanische “Queen of Punk-Literature” gibt es viele, beispielsweise von Chris Kraus oder Martin Douglas. Auch Thielecke widmet sich der Figur Kathy Acker in der Inszenierung “Who is afraid of FUCK YOU ALL (The Story of Kathy Acker – ein körpererotisches Punk-Biopic)”. Sie versucht sich an einer wortwörtlichen “Annäherung”, lässt Acker in Wort und Stil zum Leben erwachen, zu Subjekt und Objekt werden und erfasst die Ambivalenz, die die Idealisierung einer Person bedeutet.
“Who is Afraid of FUCK YOU ALL” präsentiert sich als Kriminalporno: Die Studentin Paula versucht, den Mord von Mel C, Sporty Spice von den Spice Girls, aufzuklären und hinterfragt dafür deren Verbindung mit Kathy Acker, die die Bandmitglieder einst interviewte. Hin- und hergerissen zwischen Neugier und Eifersucht, welche beide im Laufe des Stücks wahnhafte Züge annehmen, begibt sich Paula auf eine Suche nach der Wahrheit, nach ihrer eigenen Wahrheit und sich selbst. Es entfaltet sich eine Analyse zu Urheber*innenschaft in der Kunst, dem Gegensatz von Realität und wahrgenommener Realität, Lust, Gewalt und Weiblichkeit, die über Kathy Acker hinausgeht und somit Raum für Interpretation und Identifikation bietet.
Das Stück beginnt, noch vor Auftritt der vier Schauspielerinnen, mit einem auf die Wand des Bühnenbilds (Bühne und Kostüme: Anna McCarthy) projizierten Liebesbrief: „Kathy, ich liebe dich“, unterzeichnet von Paula, wie in Paula Thielecke, die ein Alter Ego zur Figur ihres Stücks macht. Der Dialog zwischen Paula und Kathy, Paulas Versuche, Kathy emotional und körperlich an sich zu binden, werden neben Mel Cs Beziehung zu Kathy zu Handlungsbögen, die die einzelnen Episoden verknüpfen. Die Szenengliederung wird durch wiederholte Projektion des Netflixähnelnden Logos mit bekanntem Soundeffekt transparent gemacht, auf die Episodentitel wie “Abortion”, “Breast Cancer” und “Success” folgen. Diese werfen jeweils unterschiedliche Schlaglichter auf Kathys Biographie – immer in Austauschmit Paula.
So nehmen die Schauspielerinnen, teils in fliegendem Wechsel, entweder die Rolle der Paula oder der Kathy ein. Von Beginn an fordert die Inszenierung die Sinne der Zuschauer*innen heraus: es riecht nach dem Nebel der Nebelmaschine, die Schauspielerinnen agieren gleichzeitig auf und hinter der Bühne, wobei die Geschehnisse im Off per Video auf die Bühne übertragen werden und ein Dialog zwischen den beiden Seiten entsteht, immer wieder unterbrochen durch längere gemeinsam vorgetragene Passagen oder Sexszenen. Unterlegt wird dieser Exzess von eindringlichen Bässen (Musik: Anton Kaun).
Enthemmte Weiblichkeit
Immer wieder verhandelt die Inszenierung schonungslos die Rollen, die weiblich gelesenen Personen in Literatur und Kunst zugestanden werden. Eindrucksvoll widmet sich eine Szene dem frühen Tod Kathys, die 1997 an Brustkrebs starb. Paula müht sich an diesem banalen Lebensende ab, will diese “weibliche Burroughs” nicht als durch Krankheit gezeichnet darstellen. Kathy erkennt die Erwartungen: Frauen sollen, in biographischen Texten, ihr Leiden an der Welt und an sich selbst thematisieren. Eine enthemmte Frau dagegen, die frei von Zwängen lebt, darf als literarische Figur nicht stattfinden. Den gewaltvollen Bruch mit genau diesen patriarchalen Konventionen zelebriert das Stück – Sexualität wird lesbisch performt, Penetration verliert die sonst so gezwungene männliche Konnotation, Beziehungsdynamiken werden austariert und das weibliche Narrativ steigert sich schamlos in einer Spirale aus Wut und Überlebensdrang.
Das Stück mit rein weiblichen Rollen, welche wie beschrieben losgelöst von patriarchalen Zuschreibungen auftreten, definiert einen radikalen Feminismus, wodurch die bis heute andauernde Relevanz Ackers offenbart wird.
Unsterblich sein wollen – das ist so männlich!
Wer genau zuhört, während sich Dildos angeschnallt oder Herzen seziert werden, spürt jedoch auch permanent den Zweifel, der Paula plagt: Warum entzieht sich Kathy Acker jedem Zugriff? Lässt sich eine nonkonforme Existenz nacherzählen, wo Erzählen doch immer Sinnkonstruktion bedeutet? Sind Denkmäler, und sei es nur in Form einer Theaterproduktion, nicht eine gänzlich patriarchale Idee, eine nachträgliche Verklärung? Diese Selbstreflexion verleiht der Inszenierung die Tiefe, die sie vor einem Abrutschen in das bloße Performen um des Schock-Effekts willen bewahrt. Nach der organisierten Reizüberflutung bleiben grundlegende Fragen des Kunstschaffens: Wer ist es wert, in Erinnerung zu bleiben? Welche Narrative gilt es zu hinterfragen und zu überwinden? Wie funktioniert künstlerisches Darstellen realer Ereignisse?
Wer bereit ist, sich auf ein solches Spektakel einzulassen, der*dem sei Thieleckes “Who is afraid of FUCK YOU ALL (The Story of Kathy Acker – ein körpererotisches Punk-Biopic)” absolut empfohlen!
Die nächsten Aufführungen finden am 19., 25., 26., 29. März, 02. und 04. April 2023 statt. Beginn ist jeweils um 20 Uhr.
von Magdalena Dietz und Michaela Minder