Das Fremde in der Heimat
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Content Warning/Inhaltswarnung: Fehlgeburt, (sexualisierte) Gewalt, Tod, Vergewaltigung
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Von Freiheit zu träumen, aber keine Hoffnung zu haben, dass diese Träume jemals Wirklichkeit werden können. So ungefähr muss sich eine Jugend in den 80er-Jahren in Russland kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion angefühlt haben. Wirklich beschreiben kann das nur jemand, der*die selbst Teil der Perestroika-Generation ist. In Das Leben vor uns widmet sich Kristina Gorcheva-Newberry dieser Generation, die sich übersehen und vergessen fühlt – oftmals zurecht.
Anja und Milka sind seit Kindertagen unzertrennlich. Zwei beste Freundinnen, die alles miteinander teilen und jede Sommerferien gemeinsam auf der Datscha von Anjas Eltern verbringen, wo sie den Apfelgarten pflegen, draußen duschen und den Geschichten von Anjas Großmutter lauschen. Sie wachsen gemeinsam auf und in einer sich ständig verändernden Welt bleibt ihre Freundschaft die einzige Konstante. Zwei Mädchen, die auch in ihrer Jugend trotz aller Gegensätze zusammenhalten. Die schmale, aber laute und selbstbewusste Milka, die aus einer dysfunktionalen Familie kommt. Ganz anders als die früher in die Pubertät gekommene, aber stille Anja, deren Eltern und Großmutter ein liebevolles Zuhause bieten, das gleichzeitig alle Widersprüche der Zeit spiegelt: politische Unruhen, Folgsamkeit und Unzufriedenheit, Wut und Selbstbetrug und am Ende immer wieder Resignation.
Die Freiheit liegt im Obstgarten begraben
Anja und Milka träumen von einem freien Leben voller Überraschungen und Abenteuer. Ein Leben, das ihnen die kommunistische Sowjetunion nicht bieten kann. Gemeinsam mit ihren Freunden Lopatin und Trifonow machen sie erste sexuelle Erfahrungen und tauschen sich aus über Literatur, Musik und ihre Hoffnungen. Bis nach einem Streit das Quartett auseinanderbricht und schließlich auch die Freundschaft von Anja und Milka ein tragisches Ende findet. Der Apfelgarten, der bisher als sicheres Refugium galt, wird zum Schauplatz von Zerfall und Trauma. Anja geht zum Studieren in die USA und kommt erst im zweiten Teil des Romans 20 Jahre später wieder zurück. Das von Putin regierte Russland ist ihr fremd und doch bringt jede Ecke Moskaus vertraute Erinnerungen zurück. Gemeinsam mit Lopatin, der mittlerweile Geschäftsmann ist und versucht, Anjas Eltern ihre Datscha samt Obstgarten abzukaufen, gräbt sie sich durch die Vergangenheit, die sie nun einzuholen scheint.
Gorcheva-Newberry zeichnet ein nuanciertes Bild Russlands. Die Hoffnungen der Perestroika-Generation werden treffend eingefangen und bilden einen wunderbaren Gegensatz zu der Resignation von Anjas Eltern. Propaganda, politische Zäsur und die Putin-Jahre der frühen 2000er finden hier ihren Platz. Der zweite Teil dieses Coming-of-Age-Romans fällt im Vergleich zum ersten zwar deutlich ab, das Buch ist jedoch trotzdem lesenswert und fesselt mit sanften poetischen Erzählstil bis zum Schluss. Kontrastreich werden sowohl die schönen, farbenfrohen als auch die grauen historischen Seiten Russlands geschildert. Wirklich an Bedeutung gewinnt Das Leben vor uns durch das zärtlich gezeichnete Bild einer Freundschaft von zwei jungen Mädchen, die in diesen Zeiten versuchen, ihren Platz in der Welt zu finden.
von Antonia Rick
Kristina Gorcheva-Newberry
Das Leben vor uns
Aus dem Englischen von Claudia Wenner
C.H. Beck 2022
359 Seiten
25,00 Euro