Julia May Jonas – Vladimir
Julia May Jonas – Vladimir

Julia May Jonas – Vladimir

Emanzipation der alten Schule

Content Warning/Inhaltswarnung: Alkohol- und Drogenmissbrauch, erwähnter Suizid, sexueller Missbrauch, Verbrennungen

Die namenlose Erzählerin ist fast sechzig Jahre alt und Professorin für Literatur an einem kleinen College an der amerikanischen Ostküste. Sie hat bereits zwei Romane veröffentlicht, doch nur mit mäßigem Erfolg. Sie führt seit dreißig Jahren eine Ehe mit John, ebenfalls Professor am selben College. Die beiden haben ihre Karriere im Gleichschritt durchlaufen und bereits früh in ihrer Ehe die Entscheidung getroffen, diese offen zu führen. Vor allem John machte von diesem Arrangement Gebrauch und hatte mit mehreren seiner Studentinnen Affären. Diese waren immer volljährig, aber auch im klassischen Alter für das Studium, Anfang zwanzig. Folglich war der Altersunterschied zu John deutlich und das Machtungleichgewicht klar. Dennoch geschahen besagte Affären zu einer Zeit, in der es von Universitätsseite noch nicht explizit verboten war, solche Beziehungen zu führen. Nun allerdings strengt eine ehemalige Studentin, mit der John ein solches Verhältnis hatte, ein Verfahren gegen ihn an. Das College berät sich darüber, inwiefern John zur Verantwortung gezogen werden muss und auch die Ich-Erzählerin bekommt die Folgen zu spüren. Ihre gemeinsame Tochter sowie ihre Studentinnen fordern, dass sie sich von ihrem Ehemann trennt, auf der Annahme beruhend, dass dieser sie betrog. Die Lage spitzt sich immer mehr zu, Beschwerden werden laut, dass sich die Erzählerin nicht mit den Anschuldigungen gegen ihren Mann auseinandersetzt, den Dialog verweigert und sich die Studentinnen deshalb nicht mehr wohl in ihren Seminaren fühlen. Aufgrund des öffentlichen Drucks legt die Collegeleitung ihr eine freiwillige Beurlaubung nahe. Von Unverständnis und Wut gezeichnet, weigert sich die Erzählerin dem nachzukommen. Wieso sollte sie für die Taten ihres Mannes, die moralisch vielleicht verwerflich, aber damals rechtlich legal und noch dazu in ihrer Ehe erlaubt waren, Nachteile erdulden müssen? Der zugrunde liegende feministische Konflikt gipfelt darin, dass die Erzählerin die klare Meinung vertritt, dass diese Frauen ihren Mann genau aufgrund seiner Macht und seines Alters begehrten, es wäre heuchlerisch sich nun in der Opferrolle zu suhlen. Ihre „[…] Wut richtet sich weniger gegen die Vorwürfe an sich als vielmehr gegen die mangelnde Selbstachtung dieser Frauen, ihr fehlendes Selbstbewusstsein und ihr Unvermögen, sich selbst […] als starke, sexuelle Wesen voller Neugier auf ein bisschen Gefahr, auf einen kleinen Regelbruch, auf ein bisschen Spaß [zu sehen]“. Weiter, „angesichts der weitverbreiteten, höchst fragwürdigen und populistischen Tendenz, auf Moral als ästhetischer Kategorie zu beharren, empfinde[t] [sie], eine Frau, diese nachträgliche Prüderie als Beleidigung“. Ihr Verständnis von Emanzipation divergiert und polarisiert.

Eitelkeit, die zum Verhängnis wird

Die angespannte Situation eskaliert mit dem Auftreten Vladimirs, der titelgebenden Figur des Debütromans Jonas´. Vladimir ist neununddreißig, aufstrebender Romanautor und frisch angestellt als Juniorprofessor an besagtem College, mit psychisch labiler Frau und junger Tochter im Gepäck. Die Ich-Erzählerin sieht in dem zwanzig Jahre jüngeren Mann ein Outlet, flüchtet sich in ihr Verlangen nach ihrer eigenen Vorstellung von Vladimir und entwickelt eine Obsession, die schwerwiegende Folgen nach sich zieht. Die Tatsache, wie wenige und ernüchternde Interaktionen die Erzählerin tatsächlich mit Vladimir hat, zeigt gekonnt, dass eine Obsession sich in Wahrheit nicht mit dem Objekt der Begierde beschäftigt, sondern etwas inhärent Selbstbezogenes ist. Die Erzählerin ist seit jeher um ihr Erscheinungsbild besorgt, gesteigert durch ihr fortgeschrittenes Alter, dem Wunsch mit ihren Studentinnen mithalten zu können und der Angst davor, irrelevant und unattraktiv zu sein. Diese Eitelkeit wird ihr zum Verhängnis und offenbart, wie weit sie bereit ist zu gehen, um diese Anerkennung notfalls auch gewaltvoll zu erzwingen.  Wer unter den Folgen dieser Tat wiederum zu leiden hat und ob hier Rechenschaft abgelegt werden muss, illustriert die Stärken Jonas´ in der Analyse der Vielschichtigkeit von Weiblichkeit, verzerrter Emanzipation und Täterinnenschaft.

von Michaela Minder

Buchcover zu "Vladimir" von Julia May Jonas

Julia May Jonas
Vladimir
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Blessing Verlag 2022
352 Seiten
24,00 Euro

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