Europas „feine“ Werte
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Welche Werte gedenkt unsere Gesellschaft eigentlich zu vertreten und welche vertritt sie tatsächlich? Dieser Frage und ihrer pointierten und zutiefst sarkastischen Erörterung geht das wortgewaltige Sprachkunstwerk „Die Schutzbefohlenen“ der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nach. Im Jahr 2013 unter dem Eindruck der vielen im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten und verschiedener Proteste gegen die menschenverachtende Politik des Staates geschrieben, fungiert das Stück als konkrete Anklage an den scheinheiligen Umgang mit Geflüchteten und gibt jenen eine Stimme, die sonst keine haben. Auch im Jahr 2023 hat dieses nichts von seiner Brisanz eingebüßt. Nach wie vor sterben täglich Menschen auf der Suche nach Schutz und einer Zukunftsperspektive an den Küsten Europas, das sich zunehmend abschottet. Seine Erstaufführung hatte das Stück 2014 in Mannheim. Unter der Regie von Janis Knorr feierte es am 12. Mai 2023 im ETA Hoffmann Theater Bamberg eindrücklich Premiere.
Zu den bombastischen Klängen des „O Fortuna“-Satzes aus Carl Orffs berühmter „Carmina Burana“ treten die drei großartigen Schauspieler*innen Antonia Bockelmann, Philine Bührer und Marek Egert, durch Maske und Kostüm an die drei griechischen Schicksalsgöttinnen erinnernd, in Erscheinung und beginnen ihr rund eineinhalbstündiges von allerlei Perspektiv- und Sprachwechsel geprägtes sarkastisches (An-)Klagelied an die ach so feinen Werte Europas inmitten eines Bühnenbildes, das der Empfangshalle eines Hotels gleicht. Provokativ mit einer Tüte Popcorn in der Hand kommentieren die drei Moiren zu Beginn das Schicksal einer Gruppe von Geflüchteten in einem Schlauchboot vor der Küste Europas, bevor sie den Überlebenden Einlass in Europa gewähren. Nur als Einlass oder freundliches Willkommenheißen lässt sich das alles nicht bezeichnen. Im Pagenkostüm mit unnatürlich langen Armen und hölzernen Händen agieren die Schauspieler*innen dabei gewollt puppenhaft und scheinen so auf die groteske und menschenunwürdige Situation in Aufnahmelagern zu verweisen. Ein bitterböser sarkastischer Unterton zieht sich dabei durch das gesamte Stück, hin und wieder ist ein Lachen im Publikum zu vernehmen, aber spätestens in dem Moment, da die Schauspieler*innen in die Rolle der Geflüchteten schlüpfen, ist es totenstill im Saal.
„Angst, dass ich zurückmuss, dass ich bleiben muss, dass ich nicht bleiben darf“
Kennzeichen des Stückes und konkretes Qualitätsmerkmal ist Jelineks Spiel mit einem raschen Wechsel des Sprachduktus und der Perspektive. So nehmen die drei Schauspieler*innen stetig wechselnde Positionen ein, streiten in einer Sekunde noch miteinander und scheinen in der nächsten wieder übereinzustimmen. Schnell wird klar, dass es sich um unstete Figuren handelt. Mitsamt der non-linearen Handlung wird einem dadurch der Zugang zunächst erschwert, was sich nach einer Phase der Gewöhnung aber als eine interessante und wirkmächtige Herangehensweise herausstellt. Anspruchsvolle Anklage und umgangssprachliche Provokation gehen hier Hand in Hand, wobei nicht davor zurückgeschreckt wird, die intendierte Botschaft für das Publikum leicht verständlich zusammenzufassen, damit niemand auf falsche Gedanken kommt.
Ein weiteres Kennzeichen des Stückes ist dabei der reiche, mythische Überbau, der diesem eine gewisse Tiefe verleiht. So wird beispielsweise der in Ovids „Metamorphosen“ zu findende Europamythos wiedergegeben, wobei dessen Bedeutung für das Stück gleich in Umgangssprache nachgeliefert wird. Vor diesem Hintergrund fungiert auch die thematisch passende Rezitation der Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos, welche uns schließlich nachdenklich und beschämt aus dem Stück entlässt. Beschämt darüber, welche Schuld unsere mitunter ignorante Wohlstandsgesellschaft auf sich lädt.
Der postmodernen Inszenierung gelingt es vor allem durch das den Text häufig paraphrasierende stark ironisch-kritische Spiel der Darsteller*innen und die intermediale Unterstützung insbesondere zentraleuropäischen Gesellschaften den Spiegel vorzuhalten. Schonungslos wird einem vor Augen geführt, wie scheinheilig unsere Gesellschaft mit Geflüchteten umgeht und welche Rolle die allgemeine Bevölkerung, die Polizei, die Politik und auch die Kirche darin spielen. Es deckt bestehende Ressentiments auf, benennt klar die innerhalb der Gesellschaft kursierenden rassistischen Narrative und konfrontiert uns im selben Zuge mit der menschenunwürdigen Lebensrealität von Geflüchteten, ihren Hoffnungen und Wünschen. Es identifiziert, welchen Einfluss die kapitalistische Doktrin auf den Grad der humanitären Hilfestellung hat und erinnert Europa an seine koloniale Vergangenheit, im Zuge dessen der Wunsch der Geflüchteten nach einer Zukunftsperspektive mehr als nur gerechtfertigt erscheint. Außerdem stellt das Stück philosophische Fragen nach der Legitimation staatlicher Grenzen, dekonstruiert Konzepte wie Heimat und diskutiert die Würde des Menschen und die Freiheit im Allgemeinen.
Alles in allem lädt uns das Stück ein oder besser gesagt, fordert uns regelrecht zum Reflektieren darüber auf, was für eine Gesellschaft wir sein wollen und welche ursprünglich europäischen, „feinen“ Werte wir wirklich zu vertreten bereit sind. Der langanhaltende Applaus erscheint angesichts der Leistung der Schauspieler*innen, der Regie und aller weiteren an der Produktion des Stückes beteiligten Menschen mehr als nur berechtigt.
Weitere Aufführungszeiten: 14.05., 24.05., 27.05, 01.06., 03.06., 07.06., 09.06., 11.06., 21.06. und 22.06.2023.
von Hendrik Matter und Verena Santl