Neil Gaiman – Sternwanderer
Neil Gaiman – Sternwanderer

Neil Gaiman – Sternwanderer

Jetzt schon ein Märchenklassiker? 

CW: Alkoholismus, Entführung, Blut, sexuelle Handlung, Vergewaltigung

Märchen? Das klingt nach moraldurchtränkten Geschichten aus einer fernen Zeit, in denen zunächst unscheinbare Charaktere von einem Abenteuer ins nächste stolpern, dabei auf allerlei sonderbare Gestalten treffen und nicht minder sonderbare Dinge auf ihren Reisen erleben; in denen Hexen, böse Stiefmütter und zur Abwechslung auch mal männlich codierte Wesen versuchen, die oftmals aus der Not heraus geborenen Pläne unserer Helden zu vereiteln und jene dabei lernen, über sich hinauszuwachsen. Legt man diesen Bewertungsmaßstab an Gaimans bereits aus dem Jahre 1998 stammendes und nun jüngst im Eichborn Verlag neu aufgelegtes Buch Sternwanderer an, lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass es sich dabei um einen Vertreter aus ebenjener Gattung der Märchen handelt, wenngleich in keinem klassischen Sinne. 

Tristran Thorn lebt in Wall, einem unscheinbar wirkenden Dörfchen, mitten in der englischen Provinz. Wäre da nicht dieses kleine Loch in jenem namensspendenden Wall, der im Osten des kleinen Dörfchens aufragt, wäre die Geschichte wohl an dieser Stelle bereits auserzählt. Nicht so aber in einem Märchen. Und so handelt es sich bei dem Loch natürlich um eine Pforte, die hinüber in ein anderes, magisches Reich führt. Der Ruf zum Abenteuer und somit der Gang durch ebenjene Pforte erfolgt für Tristran schon bald durch das Versprechen, seiner Angebeteten einen vom Himmel gefallenen Stern zu schenken, da sie nur in diesem Falle einer Heirat zustimmen würde. Auf seiner Reise trifft er dann, wer hätte es geahnt, auf allerlei sonderbare Gestalten, in Form von kleinen, haarigen Gnomen, Einhörnern, mächtigen Hexenköniginnen, gruseligen alten Vetteln, düsteren Lords, verzauberten Wesen, liebenswürdigen Flugpiraten, mysteriösen Bruder- und Schwesternschaften und wird im Zuge dessen recht schnell erwachsen. So weit, so gut, so märchenhaft. 

Definitiv ein ungewöhnlicher und stellenweise viel zu kurz geratener Märchenklassiker!

Nun könnte man fragen, was diese Geschichte denn so besonders macht, was sie also aus dem ganzen Wust an Märchen herausragen lässt. Die Antwort liegt sicherlich in Gaimans ganz eigenem Stil begründet. Zwar hält er formelhaft die klassische Märchenstruktur ein – zu Beginn des Buches wirkt es so, als mache er sich selbst ein bisschen über diesen Umstand lustig – wobei ihm Genrebrüche letztlich vor allem durch die herrlich schillernden Charaktere gelingen, die ganz und gar märchenuntypisch erfrischend menschlich und dabei keinen Deut kitschig wirken. Jene ungewöhnlichen Charaktere also, mitsamt den Anflügen von Ironie, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht und dabei auf Genrekonventionen anspielt, Gaimans wahnsinniger Ideenreichtum, dem so locker aus dem Ärmel geschüttelten Worldbuilding und sein gewisser Hang zur Dramatik, machten das Lesen zu einem wahrlich erfrischenden Erlebnis. So konnte ich das Buch aller Formelhaftigkeit zum Trotz letzten Endes nur schwer aus der Hand legen und empfand sogar Enttäuschung darüber, dass ein Großteil der Abenteuer nur angedeutet wurde. 

von Hendrik Matter

Nei Gaiman Sternenwanderer Rezension Rezensöhnchen

Neil Gaiman
Sternwanderer
Übersetzt von Christine Strüh
Eichborn Verlag 2022
240 Seiten 
14,00 Euro

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