Eine deutsche Migrationsgeschichte
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25. November 1742: Die wochenlange Schiffsreise über den Atlantik war beschwerlich gewesen. Aber nun hat Pastor Heinrich Melchior Mühlenberg, 31, aus Halle an der Saale endlich sein Ziel erreicht: Amerika. Genauer: Philadelphia. Sein Auftrag im Namen Gottes wird zu einer beispielhaften deutschen Migrationsgeschichte. Mühlenberg heiratet, baut ein Haus, arbeitet unentwegt, zieht Söhne groß, die in seine predigenden Fußstapfen treten – vorerst. Eine Rückkehr nach Deutschland? Nicht in diesem Leben. Und der Pastor ist nicht allein. Gerade in Pennsylvania sollen die Deutschen im 18. Jahrhundert „wohl mehr als ein Drittel der Bevölkerung“ ausmachen, so Johannes Ehrmann in der Einleitung seines historischen Sachbuchs Söhne der Freiheit.
Der spätere Gründervater Benjamin Franklin ist von dieser deutschen Invasion, ja von dieser Überfremdung im eigenen Land wenig begeistert. Sein Plädoyer: Schulen müssen her, an denen die amerikanischen Ideale und allen voran die englische Sprache gelehrt werden. Kurzum: Die Deutschen sollen ihr Deutschtum ablegen, wenn sie in den Kolonien heimisch werden wollen. Assimilation ist das Stichwort.
Familienpolitik? Familie und Politik!
Und wie reagiert Vater Mühlenberg? Seine deutschen Migrantenkinder sollen deutsch bleiben und werden kurzerhand zurück in seine Heimat geschickt, um dort zur Schule und in die Lehre zu gehen. Viele Jahre werden Eltern und Kinder, nein, Eltern und Söhne – die Töchter brauchen schließlich keine Bildung – voneinander getrennt sein. Vor allem der älteste Sprössling Peter, bereits ein Jugendlicher, als er nach Deutschland kommt, will sich nicht recht fügen. Sein Vorgesetzter nutzt ihn als billige Arbeitskraft aus. Nach drei Jahren, 1766, reicht es ihm. In einer Nacht- und Nebelaktion schließt er sich der britischen Armee an. Deren Ziel? Peters eigentliche Heimat: Amerika.
Dort, in den Kolonien, braut sich in den Folgejahren zunehmend ein Sturm zusammen. Die Unzufriedenheit – das Resultat der britischen Fremdherrschaft – wächst und wächst. Dann, 1775, bricht der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg aus. Der 43-jährige General George Washington steht an der Spitze der neu formierten amerikanischen Kontinentalarmee. Und unter ihm macht Peter Mühlenberg Karriere als Revolutionär. Nach anfänglicher Abneigung zieht sein Bruder Frederick (Friedrich) nach und macht nun Politik. Zwei der drei Mühlenberg-Söhne kehren also dem Familiengeschäft Kirche den Rücken. Väterliche Emanzipation ist die neue Devise.
Ein deutsches Korrektiv
Johannes Ehrmann erzählt elegant und pointiert ihre faszinierende Familiengeschichte vor dem Hintergrund politischer und kultureller Umwälzungen des 18. Jahrhunderts. Er erzählt vom Siebenjährigen Krieg, von Konflikten zwischen Siedlern und Indigenen, vom Boston Massacre und der Boston Tea Party, von Trenton und Princeton und Yorktown, von Washingtons Amtseinführung als erster Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und den Unsicherheiten der neuen Republik. Und immer wieder macht Ehrmann deutlich, dass die deutschen Migranten, nicht nur die Mühlenbergs, nicht unbeteiligte Zuschauer waren, sondern für ihre Wahlheimat, für Amerika, mit ihren amerikanischen Landsleuten in den Krieg zogen, um für Freiheit und Gleichheit zu kämpfen. Söhne der Freiheit ist ein innovatives Buch, das längst überfällig war. Ein deutsches Korrektiv, das vergessene Geschichte erfahrbar macht.
von Luisa Bader
Johannes Ehrmann
Söhne der Freiheit. Eine deutsche Einwandererfamilie und die Gründung der Vereinigten Staaten
Klett-Cotta 2023
320 Seiten
25,00 Euro