„Das hier ist nicht das Leben, das ist das Gesetz“
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CW: stroboskopische Effekte, sexualisierte Gewalt
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Das ETA Hoffmann Theater bietet in der Spielzeit 2023/24 eine Meisterleistung nach der anderen. Aktuell gibt es im Studio das Gerichtsdrama Prima facie von Suzie Miller, in der deutschen Übersetzung von Anne Rabe und unter der Regie von Mona Sabaschus zu bewundern.
In diesem #metoo-Monolog wird erzählt, wie die erfolgreiche Strafverteidigerin Tessa Ensler, die regelmäßig Prozesse zu sexuellen Übergriffen gewinnt, selbst zur Klägerin wird, als sie ein Kollege vergewaltigt und sie sich nun auf der anderen Seite im Gerichtssaal wiederfindet.
Zuerst wird das Publikum auf atemberaubende Weise in die Arbeit der Strafverteidigung eingeführt – das Kalkül und die emotionale Abgrenzung, die nötig sind, um einen Sexualdeliktsprozess in der Verteidigung zu gewinnen. Besonders eindrücklich werden die Methoden des Kreuzverhörs gezeigt: „Es ist Blut im Becken und ich lasse den Zeugen schwimmen“. Denn es geht nicht um Gerechtigkeit, sondern um „die juristische Wahrheit, so versteht es das Gesetz“. Inwiefern das Gesetz aber von patriarchalen Strukturen erschaffen und erhalten wird, die verhindern, dass Opfer von sexueller Gewalt geschützt werden, muss Ensler nun selbst erfahren. Eine anfängliche Liebschaft mit einem Kollegen endet in einer Vergewaltigung. Die Strafverteidigerin entscheidet sich zur Anzeige, fühlt sich durch ihre Arbeit gut vorbereitet und erhofft sich nach 782 Tagen bis zum Prozess endlich eine Verurteilung des Täters. Doch dann wird ihr die Schlinge des Kreuzverhörs, mit der berechnenden Strategie, die auch sie als Verteidigerin gekonnt instrumentalisierte, umgelegt und immer enger zugezogen.
„Es ist dein Spiel. Fang‘ an zu spielen.“
In dieser Inszenierung, die nur aus einer Schauspielerin besteht, stellt Philine Bührer ein Höchstmaß an Können unter Beweis. Der fliegende Wechsel von messerscharfer Strafverteidigerin, die argumentativ dominiert, vor Selbstbewusstsein nur so strotzt und einen Prozess nach dem anderen gewinnt, hin zur verunsicherten Arbeitertochter zu Hause, die es der Mutter nie recht machen kann, zeigt von einer darstellerischen Kompetenz, die große Bewunderung verdient. Als dann in der zweiten Hälfte des Stücks Bührer zwischen den unfassbar aufwühlenden Szenen der Befragung nach der Anzeige immer wieder in die Rolle des reservierten Polizisten schlüpft, bleibt man als Zuschauer*in beeindruckt von dieser schauspielerischen Leistung zurück. Das Ganze gipfelt im Prozess, in der Gegenüberstellung und Gleichzeitigkeit des Kreuzverhörs als Tessa selbst Klägerin, Zeugin, Opfer ist und ihrem inneren Dialog, in dem sie versucht ihre eigene Verhörstrategien gegen sich selbst anzuwenden, um mit ihren Antworten nicht in die Fallen des Verteidigers zu laufen. Die Parallelität von diesen Extremen ist so mitreißend, so einnehmend, so aufwühlend, dass man von dem Stück inhaltlich zutiefst berührt wird und für das Schauspiel eine tiefe Anerkennung empfindet.
Die nächsten Aufführungen finden am 04., 16., 18., 21., 22. Februar sowie 21. und 24. März 2024 im Studio statt. Beginn ist jeweils um 20 Uhr.
von Michaela Minder
alle Bilder: Philine Bührer (© Martin Kaufhold)
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