„Eine Genesung ist immer möglich, die Frage ist nur wie lange. Die Krankheit ist nur chronisch im Sinne von rezidivierend – sie droht halt … und droht und droht.“
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CW: Stroboskopeffekte, Darstellung von Suizidversuchen
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Das Theater ist sich der Verantwortung des Inhalts des Stücks bewusst und verteilte zusätzlich auf allen Plätzen Ausdrucke mit Kontakten verschiedener Unterstützungsangebote bei psychischen Erkrankungen und Suizidgedanken.
„Ich möchte Ihnen von einem Verlust berichten“ – mit diesen Worten beginnt die Inszenierung Die Welt im Rücken, nach dem autobiografischen Roman von Thomas Melle. Unter der Regie von Tim Czerwonatis und mit Marek Egert als Schauspieler (beide glänzen aktuell auch im zweiteiligen Stück Das Vermächtnis*) wird „das Scheitern eines Lebensversuchs illustriert“. Der Verlust bezieht sich auf eine Bibliothek, auf Bücher, die Rückhalt boten, aber auch auf den Verlust, den eine Krankheit auslösen kann. Thomas Melle erzählt von seiner manisch-depressiven Erkrankung, einer bipolar affektiven Störung, und Marek Egert bringt diese Erzählung auf die Bühne.
„Mein Kopf war glühender Matsch“
Zu Beginn wird eine Manie nachgezeichnet. In Variante I der bipolaren Störung dauert die manische Phase, auf die eine depressive Phase folgt, lange – in der Regel mindestens zwei Wochen, bis hin zu zwei Monaten. Bei Melle greift sie besonders schwer und dauerte bis zu eineinhalb Jahren. Die Phase der Manie wird durch Marek Egert äußerst eindrücklich dargestellt. Das Publikum bekommt tiefe Einblicke in die Irrungen und Wirrungen des eigenen Selbst: Der schwindende Bezug zur Realität, maßlose Selbstbezogenheit oder doch der „verdammte Narzissmus, der überschäumt“? Getrieben von der Euphorie, hin zu den Grenzen des Körpers und darüber hinaus. Der Bass wummert, die Gedanken rasen, die Bühne ist ein einziges Schlachtfeld eines Mannes im Kampf mit sich selbst. Egert steigert sich immer mehr, schreit, schreit lauter. Als Zuschauer*in wird es fast nicht mehr erträglich, man denkt jedes Mal, jetzt muss doch der Drop kommen, der Cut der Szene einsetzen – doch es geht immer weiter. Es wird noch wilder und der Sog tiefer. Der Protagonist versucht sich zu befreien, sieht seine Bibliothek als vermeintlichen Ballast und will sie loswerden. Er schmeißt dabei mit den Büchern um sich und knallt sie auf den Tisch mit dergleichen Wucht, wie dem Publikum die brutale Realität der Erkrankung hingeknallt wird. Diese Gewalt des Erzählten, des Dargestellten, kann im Publikum Unbehagen aufgrund der Intensität auslösen, aber nach einer guten Stunde ist die Vorstellung vorbei. Eine manische Phase für die Betroffenen jedoch nicht.
Genau hier kommt die Fähigkeit des Theaters zum Einsatz. Theater soll nicht nur zum Lachen bringen und/oder intellektuell Kritik an Politik und Gesellschaft üben, sondern auch die Realität abbilden. Wahrhaftigkeit – egal, wie unschön oder schmerzhaft sie ist, schafft auf der Bühne Sichtbarkeit, bringt dem Publikum Stigmen näher und bricht sie auf. Psychische Krankheiten sind heute immer noch stark stigmatisiert. Manche mehr als andere und für die bipolare Erkrankung existiert wenig Sichtbarkeit. Bei circa der Hälfte der Betroffenen kommt es nie zu einer Diagnose. Die Dunkelziffer ist besonders hoch zu erwarten. Kein Vortrag über bipolare Störung als Krankheitsbild wäre so eindrücklich und bewegend gewesen, auch wenn die gleichen Fakten erzählt worden wären. Kein Film hätte es geschafft, die Distanz zum Publikum so leicht abzubauen. Theater kann all das und Die Welt im Rücken ist ein Paradebeispiel dafür.
„Mein Enthusiasmus kippte in Panik“
Auf das eine Extrem folgt das andere. Nach der Manie wird der Protagonist niedergerissen und fällt tief in eine Depression. Erschöpfung, Antriebslosigkeit, innere Monotonie, Angst vor der Einsamkeit und davor, sein Innerstes zu verlieren, sowie die Realisation, dass „alles, was ich die vorherigen Monate gedacht habe, völlig falsch und irrsinnig war“ legen sich wie ein schweres Tuch über ihn und drücken ihn zu Boden. Dieser Wechsel der Gegensätze ist so extrem und wird von Egert unfassbar gut umgesetzt. Der zitternde, angsterfüllte Atem nach dem Umschlagen in die Depression ist genauso erschütternd und einnehmend wie die durchdringenden Schreie in der Manie. Ein Monologstück als einzige*r Schauspieler*in in der Darstellung zu tragen ist bereits eine beachtliche Leistung. Kommt dazu noch ein solcher Wechsel der Extreme hinzu, wird es zu einer Meisterleistung. So auch in Prima Facie. Marek Egert übertrifft dies in Die Welt im Rücken dadurch, wie körperlich fordernd das Stück ist, zumal es nach Die Leiden des jungen Werther bereits sein zweites Monologstück in dieser Spielzeit ist. Nicht zu vergessen seine aktuelle essenzielle Rolle in Das Vermächtnis. Folglich könnte man mit der Frage zurückbleiben – was soll als Schauspieler*in noch von mehr Können zeugen als eine solche Darbietung?
„Meine Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist meine Krankheit meine Heimat“
In Die Welt im Rücken darf man als Publikum einer Entwicklung zusehen: Von „tief im Inneren hatte ich eigentlich die Gewissheit lebensunfähig zu sein“, gefangen in der Manie und gefesselt durch die Depression zur zaghaft hoffnungsvollen Zuversicht: „Ich meinte schon nach der zweiten Manie, eine dritte würde ich nicht überleben. Habe ich aber, würde ich wieder. Ich mag mich wieder umbringen wollen, irgendwann. Dann werde ich dennoch weiterleben“. Die Bibliothek wurde in der Manie, durch die Krankheit, zerstört, aber „in meinem Rücken wächst ganz langsam eine neue heran.“
Die Welt im Rücken gehört zur Nachspiel-Reihe des Ensembles und feierte als Teil dieser im Anschluss an eine reguläre Aufführung von Marie-Antoinette oder Kuchen für alle! bereits im Dezember 2023 Premiere. Aufgrund der begeisterten Rezeption wurde nun eine erneute Aufführung ermöglicht. Auch hier war die Nachfrage so groß, dass kurzfristig für den nächsten Tag ein Folgetermin angeboten wurde. Erfolgreiche Inszenierungen wie diese zeigen, mit welch starkem Programm das ETA Hoffmann Theater in der Spielzeit 2023/24 aufwartet, und wie es sich als Haus durch sein Ensemble auszeichnet.
Am 28. Mai 2024 um 20 Uhr findet eine weitere Aufführung statt. Eine Wiederaufnahme in der Spielzeit 2024/25 ist geplant.
* siehe hier: Teil 1 und Teil 2
von Michaela Minder
© Dominik Huß