Ein Politthriller, der keiner ist
—
Unaufhaltsam kommen sie näher, in einer schier unmenschlichen Geschwindigkeit und mit einer Kampfkraft, der wenig entgegenzusetzen ist. Aufgeputscht mit Amphetaminen ist die deutsche Wehrmacht unter Führer Adolf Hitler nicht zu stoppen. Mit einer solch rasenden Menschenwalze hat Frankreich bei Kriegseintritt nicht gerechnet – und auch nicht die deutschen und österreichischen Exilant*innen, die nach Machtübernahme der NSDAP auf französischem Boden Sicherheit gesucht haben. Was nun? Raus aus Frankreich, das ist klar, und zwar so schnell wie möglich. So einfach aber wird es nicht werden. Nicht, wenn Gefangenschaft und Tod überall lauern und Hilfe rar gesät ist. Bestsellerautor Uwe Wittstock erzählt in seinem atemraubenden Zeitporträt Marseille 1940 von unvorstellbaren Fluchtversuchen, von Internierungslagern, Fahndungslisten und bürokratischen Unmöglichkeiten, von Angst und Verlust, von Mut, Freundschaft und Zusammenhalt in scheinbar aussichtslosen Zeiten.
Marseille 1940
Unvorstellbar, was da in Europa vor sich geht, was auch Künstler*innen und Literat*innen zu befürchten haben. Varian Fry will ihnen helfen, aktiv werden, nicht nur die Schlagzeilen lesen. Er ist Amerikaner, 30 Jahre alt, und kommt im Namen des neugegründeten Emergency Rescue Committees nach Frankreich. In der Hafenstadt Marseille formiert er eine Gruppe außergewöhnlich mutiger und entschlossener Menschen um sich, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: so viele Gefährdete retten wie nur irgend möglich. Heinrich, Nelly und Golo Mann, Franz und Alma Mahler-Werfel, Lion und Marta Feuchtwanger, Anna Seghers und Tausende andere können mit der unbeirrbaren Hilfe Varian Frys und seiner Mitarbeitenden den vorrückenden Nazis entkommen. Uwe Wittstock lässt die Tage, Wochen und Monate des Hoffens und Bangens, des Gelingens und Scheiterns minutiös Revue passieren. Er stellt die oft unbekannten, aber für die Rettung essenziellen Beteiligten vor, zeigt ihren unglaublichen Mut, ihre Mitmenschlichkeit. Im Präsens geschrieben, liest sich sein Sachbuch wie ein Politthriller, der keiner ist. Wie schon in seinem Vorgänger Februar 33 fängt er spannungsgeladene Momentaufnahmen ein. Der erzählende Ton und die erschütternden Schicksale lassen das Zeitgeschehen dabei auf eine intensive, ja eine noch lange nachhallende Weise in Erscheinung treten. Es sind Geschichtsbücher wie dieses, die unsere Gegenwart braucht.
von Luisa Bader
Uwe Wittstock
Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
C.H.Beck 2024
351 Seiten
26,00 Euro