Fehlende Nestwärme
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„Es gab diese Zeit, in der alles gut war.“
Doch es hat sich ziemlich rasch gewandelt, das Leben, wie es sich Madeleines Mutter für sich und ihre Familie ausgemalt hatte. Weg aus Lübeck, Madeleines Geburtsstadt, hatte sie gewollt und so wurde der Jeep gegen einen Trabi getauscht und der kapitalistischen Stadt der Rücken gekehrt. Statt der romantischen Idee eines Aussteigerdaseins auf dem Mecklenburger Hof ist die Realität ein Alltagskampf in der abgehängten Nachwende-Provinz. Am schnellsten war der Traum für den Vater ausgeträumt, nach ihm haben die zwei Söhne das Weite gesucht. Einzig die Ich-Erzählerin Madeleine und ihre jüngere Schwester Ronja sind bei der Mutter geblieben. Sie bewohnen das marode, stets eiskalte Haus, das ihre Mutter als Außenstelle ihrer Arbeit in ein Auffanglager für Haus- und Wildtiere verwandelt hat. Hunde, Katzen, Ziegen, Wildschweine. Getier bevölkert jede Ritze, sodass die Mädchen geradezu in ihre Zimmer zurückgedrängt werden. Madeleine muss sich Fluchtwege zur Toilette ausdenken, da sich vor ihrer Tür ein neu angeschleppter Hund breitgemacht hat.
Nach ihrem Debüt Niemand ist bei den Kälbern legt Alina Herbing erneut eine Betrachtung des Landlebens vor, der nichts Idyllisches anhaftet. Es ist eine ruhig erzählte Hof-Tristesse, deren bizarre Konstellation nach wenigen Seiten so selbstverständlich erscheint, dass man sich kaum mehr über Pfützen von Hunde-Urin im Flur wundert. Oder darüber, dass die Mutter nur dann Verwendung für ihre Töchter hat, wenn sie sie bei Rettungsaktionen für Tiere einspannen kann. Dann wirken sie am ehesten wie eine eingespielte Gemeinschaft, wenn das Tierwohl im Vordergrund steht. Das ist das Bitterste, Tieftraurige an diesem Buch.
In kurzen Kapiteln montiert die Autorin Rückblicke und Gegenwartszenen aus der Perspektive der 16-jährigen Madeleine zusammen. So ist es keine lineare Geschichte des Niedergangs, man kann sich immer wieder etwas aufwärmen an den Erinnerungen an bessere Zeiten, so wie sich Madeleine von Zeit zu Zeit die Hände an dem flackernden Ofenfeuer wärmt.
Einen großen erzählerischen Raum nimmt die erfinderische Deckung von Grundbedürfnissen ein: Madeleine durchstromert das Haus nach brennbaren Materialien, um der klammen Kälte etwas entgegenzusetzen. Sie improvisiert mit Resten aus der Speisekammer; die luxuriös scheinenden, bald abgelaufenen Landliebe-Puddings, die manchmal von einer Bekannten gebracht werden, verschlingt sie gierig. Die beiden jugendlichen Schwestern müssen sich zu helfen wissen mit Wärmflaschen, Pragmatismus und einer stoischen, fast trotzigen Hoffnung. Darauf, dass sie von Robbie Williams oder den Backstreet Boys aus ihrem Elend erlöst werden. Oder darauf, einen ozeanblauen Badezimmervorleger zu Weihnachten zu bekommen, geschweige denn eine richtige Toilette. Es ist rührend geschildert, wie sich die beiden zum schwesterlichen Ritual rüsten: mit selbstgemachter Brause aus Vitamintabletten blättern sie sich durch den frisch gelieferten Quellekatalog und kreuzen sich „Lieblingszukünfte“ mit Füller an.
„Wenn dir deine kleine Schwester weinend in den Armen liegt, das wusste ich, darfst du selbst auf keinen Fall auch anfangen zu weinen.“
Madeleine muss die Erwachsene sein, früh Verantwortung übernehmen. Ihre Erzählstimme ist zumeist abgeklärt, doch manchmal spricht ein feiner, bissiger Zynismus aus ihr, die sich schon längst damit arrangiert hat, ein Aschenputtel-Leben zu führen.
Herbing schreibt in einer unaufgeregten Sprache; jedes Wort sitzt. Ihre Stärke liegt in der szenischen Beschreibung, in nur wenigen Sätze entstehen Personen, Atmosphären und Sinneseindrücke in wuchtiger Nüchternheit. Ihren Figuren nähert sie sich einfühlsam und in einer psychologischen Nuancierung, die Raum lässt für Widersprüche. Es ist bemerkenswert, wie man beim Lesen Madeleines ambivalente Haltung gegenüber der Mutter übernimmt. So grausam sie scheint, sie wird nicht als Biest verurteilt; man kann erahnen, wie aus ihren einst hoch gesteckten Idealen fehlgeleitete Prinzipien wurden.
„‚Elf Grad, das geht doch noch’, sagte sie zu mir. Und ‚Ja, meine Kleinen’” zu den Hunden.”
Es fröstelt einen bei der Lektüre. Das liegt daran, dass man sich durch Herbings anschauliche Schilderung unmittelbar in das bitterkalte Zimmer der Protagonistin versetzt fühlt. Das liegt aber auch daran, dass sich die emotionale Unterkühlung der Mutter gleichsam physisch auf den Leser überträgt. Es ist eine verkehrte Welt. Menschlich ist die Mutter den Tieren gegenüber, ihnen lässt sie ihre Fürsorge und Zuwendung angedeihen. Und dann sind da dummerweise noch die zwei Töchter, die sie behandelt wie Streuner, die man eben mit durchfüttern muss. Während sie die sich stets erweiternde Tierschar säuselnd beruhigt und mit Spitznamen bedenkt, nennt die Mutter Ronja und Madeleine „Kinder“. Mit ihnen verbindet den Leser die lauernde Hoffnung, doch irgendwo Züge von Mutterliebe ausfindig zu machen.
Wie ein ausgehungertes Tier über Brotkrumen freut man sich, sobald man an ihr so etwas wie Gefühlsregungen erahnt.
Der Titel stimmte nachdenklich. Die Tiere, vor denen man Angst haben muss – gehören sie der anderen Spezies an? Oder sind am Ende die Tiere menschlicher Gattung die fürchterlichsten?
von Jana Paulina Lobe
Alina Herbing
Tiere, vor denen man Angst haben muss
Arche Literatur Verlag 2024
256 Seiten
23,00 Euro