Zwischen Wahn und Wut: Eine hypnotisierende Familientragödie
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CW: häusliche Gewalt
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Hoffnung, Betrug, Eifersucht, Tod: Pelléas und Mélisande hat alles, was eine Tragödie braucht. Débussys Oper von 1902 kommt mystisch, suggestiv und hochdramatisch daher. Dass Freud zu der Zeit angesagt war, ist nicht zu übersehen: Alles ist symbolisch aufgeladen, das Seelenleben der Figuren ist der wichtigste Protagonist. Jens-Daniel Herzog hat die Oper für das Staatstheater Nürnberg inszeniert, vergangenen Samstag (08.06.2024) feierte das Stück Premiere.
Die unbegreifbare Seele
Auf Schloss Allmonde ist es düster, kein Licht dringt an diesen Ort. Jede*r, der hier lebt, leidet unter Krankheit, Missverstehen der anderen und einer über allem schwebenden Todesahnung. In diese Düsternis bringt Prinz Goulaud ein Licht: seine neue, fremde Frau Mélisande. Woher sie kommt, weiß niemand, doch darum geht es nicht in Débussys Oper. Es gibt keine Erklärungen, nur das Geheimnisvolle. Goulauds Halbbruder Pelléas kommt Mélisande bald näher. Goulaud bespitzelt sie, sogar seinen Sohn setzt er auf sie an. Als die beiden sich küssen, entladen sich seine Eifersucht und sein Misstrauen im Brudermord. Goulauds Gewissen plagt ihn, denn er hat seinen Bruder erschlagen und Mélisande an den Rand des Todes getrieben. Trotzdem lässt er die sterbende Mélisande auch weiterhin nicht in Ruhe. Hat sie ihn betrogen? Ist das Kind, das sie geboren hat, seine Tochter oder nicht?
Goulaud ist ein Patriarch, der die schwangere Mélisande schlägt, schubst, und an den Haaren herumzieht. Sangmin Lee singt und spielt ihn so realistisch, dass man am Ende kurz versucht ist, dem unerträglichen Goulaud den Applaus zu verweigern. Aber nur fast, denn Applaus haben die grandios singenden Schauspielenden mehr als verdient. Samuel Hasselhorn gibt einen träumerischen Pelléas und Chloë Morgan verführt als feenhafte Mélisande die beiden Halbbrüder. Die gesamte Besetzung spielt meisterhaft subtil und zeigt zugleich große Emotionen.
Das Orchester unter der musikalischen Leitung von Björn Huestege bespielt die seelischen Konflikte der Menschen, ihre selbstzerstörerische Gewalt genau wie ihre Hoffnungen mal bedrohlich, mal unbeschwert. Dabei hält sich die Musik meist zurück und kreiert vor allem in den Dialogpausen die düster-verzauberte Atmosphäre auf Schloss Allmonde. Im beweglichen Bühnenbild scheinen sich die Figuren ständig zu verstecken. Das Schwert, das Pelléas’ Leben ein Ende setzen wird, hängt von Anfang an bedrohlich an der Wand.
Am Ende wird kein Rätsel gelöst. Woher kam Mélisande? Woran starb sie? Wessen Kind gebar sie? Auch die Protagonist*innen erfahren die Wahrheit nie. Die Balance zwischen versteckten Emotionen und Seelenkämpfen in einer Inszenierung zu finden, ist eine schwierige Aufgabe, die Jens-Daniel Herzog bravourös meistert. Die Geschichte ist schleierhaft hypnotisch, man verlässt den Saal benommen, wie aus einem Traum erwacht. Die Aufführung findet auf Französisch statt, mit deutschen und englischen Übertiteln. Débussy mag zwar nicht für jede*n das Richtige sein, doch wer sein Werk zu schätzen weiß, wird hier nicht enttäuscht.
Die nächsten Aufführungen finden an folgenden Terminen statt: 16.06., 18.06., 20.06., 24.06., 03.07. und 07.07.
von Nina Schäfer und Theresia Seisenberger
Alle Fotos: © Staatstheater Nürnberg / Bettina Stoess