Wer einmal lügt…
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CW: Angststörung, Cybermobbing, kulturelle Aneignung, Panikattacken, Rassismus, Sexismus, sexualisierte Gewalt, Suizidgedanken, Trauma, Tod, Verfolgungswahn
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Athena Liu hat alles: einen literarischen Hit nach dem anderen, die Anerkennung der Literaturbranche und nun auch noch einen Deal mit Netflix. Für ihre frühere Kommilitonin June Hayward, deren Debütroman ein gnadenloser Flop war, ist der Erfolg ihrer neiderregenden „Freundin“ nur schwer zu ertragen. Doch dann ist June dabei, als Athena unerwartet stirbt – und kann nicht anders, als das aktuelle Manuskript der Starautorin zu stehlen. Denn wäre es nicht schade, wenn Athenas neueste Geschichte nach ihrem Tod nie erzählt werden würde? Unter dem Künstlernamen Juniper Song überarbeitet und veröffentlicht June Die letzte Front deshalb als ihr eigenes Werk. Doch ein solches Geheimnis zu bewahren, erweist sich als weitaus schwieriger, als sie angenommen hatte…
Wer darf welche Geschichten erzählen?
„Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Diebin, Plagiatorin. Und vielleicht, weil alle schlimmen Taten immer rassistisch motiviert sein müssen, Rassistin. Lasst es mich erklären.“
Mit der Figur der June Hayward wird der Roman von einer Protagonistin getragen, die alle (inklusive sich selbst) permanent davon überzeugen möchte, dass sie mit ihrem mehr als fragwürdigen Handeln im Recht ist. Auf jeder Seite versucht sie, die Täter-Opfer-Dynamik der Geschichte umzukehren, was sie zu einer unzuverlässigen Erzählerin macht und Kuangs Leser*innen animiert, das Gelesene stets zu hinterfragen. Wer im Laufe des Plots eine starke Weiterentwicklung der Figur erwartet, wird zwar enttäuscht werden, jedoch ist genau dieser Sog aus immer neuen Lügen und verzweifelten Versuchen, sich vor der Verachtung des Publikums zu retten, das, was der Handlung einen faszinierenden Rahmen verleiht.
„Natürlich fliegen Athena alle guten Dinge zu, denn so läuft es in dieser Branche. Der Literaturbetrieb sucht sich einen Gewinner oder eine Gewinnerin aus – attraktiv genug, cool und jung und, mal ehrlich, wir denken es doch alle, […] ‚divers‘ genug – und überschüttet diese Person mit Geld und Unterstützung.“
Wie gewohnt überzeugt Rebecca F. Kuang neben der komplexen Charakterzeichnung auch in Yellowfacewieder mit einem kritischen Blick auf die Gesellschaft sowie auf Machtstrukturen; dieses Mal insbesondere durch ihre satirische Auseinandersetzung mit der Literaturbranche. Obwohl der Roman als Thriller beworben wird, kommen Fans dieses Genres aufgrund der nur sporadisch eingebauten Thriller-Elemente wohl nicht ganz auf ihre Kosten. Dennoch sorgen die temporeiche Handlung und die behandelten Themen für viel Spannung. Es gelingt der Autorin, Fragen nach Authentizität, kultureller Aneignung und der Profitabilität von Kreativen und ihren Werken ebenso unterhaltsam zu beleuchten wie deren öffentlichen Diskurs, Twitter-Debatten und Cancel Culture. Trotz seiner Aktualität erzählt der satirische Roman jedoch eine Geschichte, deren Relevanz in nächster Zeit keinesfalls abnehmen wird, im Gegenteil. Der Übersetzerin Jasmin Humburg gelingt es hierbei perfekt, jegliche sprachliche Internet-Besonderheiten – von Chatwörtern wie „lol“ bis hin zu englischsprachigen Hashtags und Begriffen – elegant in den Schreibfluss des übrigen Romans einzubinden, ohne Formulierungen in der deutschsprachigen Ausgabe unnatürlich oder erzwungen wirken zu lassen.
Mit ihrem neuesten Roman hat Rebecca F. Kuang nach dem großen Erfolg von Babel erneut ins Schwarze getroffen. Insbesondere die Kombination aus komplexen, unliebsamen Charakteren und den behandelten Themen macht Yellowface zu einem Werk, das alle, die sich auch nur im Entferntesten mit dem Literatur- und Kulturbetrieb beschäftigen, unbedingt gelesen haben sollten!
von Alicia Fuchs
Rebecca F. Kuang
Yellowface
Aus dem Englischen von Jasmin Humburg
Eichborn 2024
383 Seiten
24,00 Euro
ISBN: 978-3-8479-0162-4