Was wäre, wenn alle die Care-Arbeit niederlegten?
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Wer Fallwickls vorherigen Roman die Wut, die bleibt gelesen hat, wird sich freuen Lola und ihre Freundinnen in diesem wiederzutreffen und sich erinnern, dass sich Lola genau diese Frage stellte: „Was wäre, wenn alle Frauen sich verweigern würden […], wenn sie nichts mehr tun würden, gar nichts, […] sie würden einen umfassenden Stillstand erzwingen und sagen: das sind unsere Körper, unsere allein, und wenn ihr glaubt, sie gehören euch, dann wollen wir doch mal sehen.“ Genau das sehen wir in Mareike Fallwickls neustem Roman und alle so still. Ausgehend von einer kleinen Gruppe legen immer mehr Frauen beruflich und privat ihre Arbeit nieder und sich selbst dabei symbolisch auf den Asphalt. Dabei schreien sie keine Protestparolen, erklären sich nicht, tun gar nichts, liegen einfach nur da – denn was gibt es noch zum Patriarchat zu erklären, was nicht schon viele Male gesagt wurde? Anfangs am Rand und irgendwann mittendrin stehen die drei Protagonist*innen des Romans: die junge Elin, der etwas widerfährt, von dem sie nicht weiß, ob es Gewalt war, und die, obwohl feministisch top erzogen, ohne Anker durchs Leben zu treiben scheint. Der ebenfalls junge Nuri, der sich mit unzähligen Minijobs Geld zusammensparen will, um seiner Familie am sozialen Rand der Gesellschaft zu entfliehen. Und Ruth, die gewissenhafte Krankenschwester, die den Lesenden einen ungeschönten Blick in den Krankenhausalltag gewährt. Alle drei verbindet, dass sie zu den Sich-Kümmernden in der Gesellschaft gehören – und zu denen, die permanent gefordert, ja sogar überfordert, aber trotzdem nie wertgeschätzt werden. Mit zwischen diesen drei Personen wechselnder Erzählstimme beschreibt Fallwickl eine Woche im Juni, aus der eine ungemeine Kraft zur Veränderung wächst.
Die Kraft weiblicher Solidarität
„Weißt du noch, Mama, dass du wieder und wieder gesagt hast, jede ist auf sich allein gestellt, weil Frauen nicht zusammenhalten können? […] Was, wenn du dich geirrt hast?“, fragt Elin ihre Mutter in der Mitte des Romans, als der Protest der Frauen immer mehr Gesellschaftsbereiche zum Erliegen bringt und die Männer langsam ungehalten werden. In ihrer Solidarität zeigen sie, dass aus diesem Stillstand etwas Neues, Positives entstehen kann. Trotz der teilweise etwas platten Beschreibung der „typisch“ männlichen Charaktere ist die Botschaft des Romans klar: Die Männer sind nicht das Feindbild, auch sie leiden unter dem System. Das Ziel ist nicht, dass Frauen mit dem Kümmern aufhören, sondern die Männer damit anfangen – und wir alle gemeinsam in eine Richtung gehen.
Dies ist ein Roman über ungehörte Wut und Frust, permanente Überforderung und fehlende Wertschätzung. Er hat mich mit sehr viel Wut im Bauch zurückgelassen, darüber, dass vor allem die so schön als „systemrelevant“ gelabelten Berufe so wenig Wertschätzung erfahren und von so vielen weiblichen Menschen tagtäglich so viel gefordert wird. Fallwickl beschreibt dies treffend in ihrer trockenen Art: „Das Patriarchat kann sich darauf verlassen, wann immer irgendwo ein Kind oder eine alte Person umfällt, kommt eine Frau und hebt es auf.“ Der Text lädt immer wieder zum Innehalten und Nachspüren von eigenen Erfahrungen ein. Besonders eindrücklich sind auch die Schilderungen der Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor und im Krankenhaus. Immer wieder fragt man sich, ob das so wirklich erlaubt und legal sein kann. Große Leseempfehlung.
von Hannah Deininger
Mareike Fallwickl
und alle so still
Rowohlt 2024
368 Seiten
23,00 Euro
ISBN: 978-3-498-00298-5