Joanna Quinn – Das Theater am Strand 
Joanna Quinn – Das Theater am Strand 

Joanna Quinn – Das Theater am Strand 

Vom Statist*insein im Theaterstück namens „Leben“


CW: Bodyshaming, Bombardierungen, häusliche Gewalt, Krieg, Kriegsverletzungen, Misogynie, Mord, Nationalsozialismus, sexuelle Gewalt, Tod, Verlust, Vernachlässigung von Kindern

Joanna Quinns Das Theater am Strand erzählt die Geschichte der Seagraves während der belebten und dramatischen Krisen- und Kriegsjahre des 20. Jahrhunderts. Die Seagraves, eine gutsituierte englische Familie und Teil des englischen Landadels, leben in augenscheinlicher Idylle und Glückseligkeit auf dem Anwesen Chilcombe in Dorset. Doch Chilcombe ist weniger Zuhause als es von außen scheint. Vor allem für die jungen Seagrave-Töchter, Cristabel und Florence. Durchgehend an ihre untergeordnete Stellung in der Familienhierarchie erinnert, fühlt sich insbesondere die 12-jährige Cristabel nicht nur wenig beachtet, sondern wie ein unerwünschter Störfaktor im Geflecht der Seagrave-Dynastie. Der Ausbruch aus dem drögen Alltag gelingt den Seagrave-Kindern, als eines Tages, im Jahr 1928, ein Blauwal an den Strand von Dorset gespült wird, dessen Knochen die Bestandteile des baldigen Freilufttheaters bilden – dem Walknochen-Theater (engl. Whalebone Theatre) – unter Leitung einer ambitionierten und vor Fantasie strotzenden Cristabel.

„Der einzige Ort, an dem ich mich zu Hause fühlte, war die Bühne.“ 

Quinns Roman ist aufgebaut wie ein klassisches (aristotelisches) Drama und besteht demnach aus fünf Akten: Exposition, Steigerung, Peripetie (Höhepunkt), retardierendes Moment und Katastrophe/Lösung. Der mitschwingende Unterton einer Tragödie ist hierbei immer präsent, was wenig überrascht, wenn es um die Weltkriege des 20. Jahrhunderts geht. Dennoch ist die Handlung für mich bis zur Hälfte des Romans überwiegend zäh und eher schleppend. Zudem sind die Kindheitsjahre der Seagrave-Nachkommen Cristabel, Florence und Digby geprägt von schrecklichen Erwachsenen, kaum vorhandener Abwechslung oder Abenteuern, die Erzählungen über Kinder und Kindheit sonst so bereithalten. Das einzig Aufregende ist die Entdeckung des Wals, wobei dessen morbide, beinahe schon grotesk-anmutende „Wiederverwertung“ als Theaterkulisse durchaus fragwürdig und an Stellen zu langatmig ausgetragen beziehungsweise dokumentiert wird. Doch ausdauernde Leser*innen werden belohnt! Die Spannung, und damit auch die eigentliche Handlung, setzt ganz der bereits erwähnten Theaterlogik nach dann doch endlich ab dem DRITTEN AKT (1939-1941) ein. In den daran anschließenden knapp über 400 Seiten folgen erfreulicherweise eine Vielzahl neuer Schauplätze, Charaktere und Handlungsstränge – theatersprachlich ausgedrückt also neue Szenen mit wechselnder Besetzung und Bühnenbildern

Während sich Cristabel zuerst als Teil der WAAF (Women’s Auxiliary Air Force) und später als Agentin des britischen Geheimdiensts in Frankreich durchsetzt, meldet sich ihr jüngerer Bruder Digby (zum Unmut seiner Mutter) freiwillig als Soldat und wird später selbst zuerst Teil des Geheimdienstes und dann Widerstandskämpfer bei der französischen Résistance. In der Zwischenzeit schlägt sich die daheimgebliebene Florence an der Heimatfront auf dem familieneigenen Anwesen in Chilcombe durch und schließt sich später den Landarbeiterinnen an. Alle drei mittlerweile erwachsenen Seagrave-Sprösslinge nehmen vor der großen Kulisse des Krieges fortan neue Rollen ein und verlassen somit allmählich die Hülle ihrer Kindheit. Dabei weist die Geschichte selbst starke Ähnlichkeiten zu realweltlichen Dramen und Epen der Literaturgeschichte auf, insbesondere Sophokles’ Antigone, und baut darauf im Text wiederholt auf. So auch hier: 

„Die Handlung geht rasch voran. Antigone versucht, heimlich ihren toten Bruder zu begraben, der in der Schlacht gefallen ist, aber des Verrats bezichtigt wird. Sie wird von Wachen festgenommen und Kreon vorgeführt. […] Von diesem Moment an entfaltet sich die Tragödie ganz von allein, und Tod folgt auf Tod folgt auf Tod, bis der Vorhang fällt.“

„[Z]u viel Kulisse, zu wenig Theater“?

Das Motiv des Theaters bleibt über den gesamten Verlauf des Romans beständig. Immer wieder gibt es Erwähnungen des Walknochen-Theaters, seiner Strahlkraft und der damit verbundenen Kindheitserinnerungen, die selbst in den schwierigsten Zeiten eine Art Rettungsboot für Cristabel, Digby und Florence bedeuten. Wiederholt spiegelt der Roman Theater mit Realität, setzt Akzente aus der Kunst und verknüpft diese mit den Schrecken der Wirklichkeit. Dennoch hatte ich Schwierigkeiten in die Geschichte hineinzukommen. Auch wenn sich die schleppende Dynamik der ersten Hälfte durch die Logik des Romanaufbaus erklären lässt, fand ich die ersten zwei Akte nicht nur träge, sondern teilweise auch ereignislos. Dazu kommt, dass es über diesen gesamten Teil kaum Charaktere gibt, mit denen ich mitfühlen konnte bzw. wollte, mit Ausnahme der Seagrave-Kinder, was vermutlich Sinn des Story- und Character Building sein soll. Trotz dessen machte es mir die Vielzahl an unerträglichen Erwachsenen und die fehlende Spannung oftmals schwer weiterzulesen. Erst durch die angestrebte Peripetie, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, kommt allmählich Schwung in die Erzählung. 

Dennoch fand ich die Übermäßigkeit, mit der das Theater/-leben/-spielen über die Handlung hinweg inszeniert sowie demonstriert wurde an manchen Stellen zu penetrant, geradezu erzwungen. Gleichzeitig schien mir die Geschwisterdynamik der Seagraves ziemlich unausgewogen. Besonders Florence erschien mir zeitweise wie eine Art Randnotiz, die wenig Handlungsmacht beweisen durfte, bis sie von ihren Geschwistern für den Krieg allein zurückgelassen wird. Im Schatten ihrer Geschwister, die sich gerne als Außenseiter*innen und Nonkonformist*innen wähnen, ist Florence meiner Meinung nach die wahre Außenseiterin, da sie gerne dazugehören will und es ihr wichtig ist, was andere von ihr halten. Durchweg spielt sie lediglich eine Nebendarstellerin auf der großen Bühne des Lebens und kommt wenig zu Wort. Schade!

Nichtsdestotrotz bietet Das Theater am Strand ein interessantes Konzept für den Aufbau eines Romans. Die Vielzahl an persönlichen Briefen, Tagebucheinträgen und Zeitungsartikeln verleihen der Handlung Authentizität und Abwechslung zu der gewohnten Erzählstruktur. Trotz der Ambivalenz der Figurenkonstellationen fand ich die Mehrheit der Charaktere durchaus nachvollziehbar und komplex. Dennoch klammert sich die Mehrheit der Figuren in diesem Buch meines Erachtens zu sehr ans Vergangene, womit das Buch folglich kaum Charakterentwicklung zulässt – so auch bei Protagonistin Cristabel. Allerdings gefiel mir das Setting der englischen Grafschaft Dorset wirklich gut, sowie die Beschreibungen der Umgebung von Chilcombe. Gleichzeitig finde ich Quinns Ansatz das Buch einem Dramenaufbau anzugleichen sehr innovativ und zum Großteil auch gelungen, mit Ausnahme des fehlenden Spannungsaufbaus während der ersten beiden Akte.

von Kristina Steiner

Joanna Quinn
Das Theater am Strand 
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn 
C. Bertelsmann 2023
720 Seiten
23,00 Euro 
ISBN 978-3-570-10465-1

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