Aus dem Nest geschubst
Die alleinerziehende Sunday hat sich mit ihrer Teenagertochter Dolly ein beschauliches Leben in ihrem Elternhaus im Lake District eingerichtet. Obwohl sie geschieden ist, arbeitet sie noch immer auf der Farm ihrer Schwiegereltern. Mit sorgsam erstellten Routinen und einem Benimmratgeber aus den 1950ern navigiert sie durch ihren Alltag: Sunday ist Autistin. Im England der 1980er aber ist die Diagnose kaum bekannt, sie ist einfach ‚anders‘. Weil ihr Umfeld sie das von Kindheit an spüren ließ und ihr soziale Interaktionen Unbehagen bereiten, beschränkt sich Sundays sozialer Radius auf ihre Tochter und ihren gehörlosen Kollegen. Eines Sommers aber zieht die mondäne Vita mit ihrem Mann Rollo ins Nachbarhaus und wirbelt ihr ritualisiertes Leben mit ihrer unkonventionellen Art durcheinander.
„Wo ich blass und unbedeutend bin, war Vita dunkel und sorgsam geformt […] wie ein Stück Marmor. Und genauso kalt unter der Hand.“
Trotz oder gerade wegen der Unterschiede in Charakter und Gesellschaftsschicht lockt Vitas naturgegebener Charme Sunday aus der Reserve. Wöchentliche Abendeinladungen bei dem glamourösen Paar wachsen sich zu unangekündigten beiderseitigen Hausbesuchen aus. Dass nicht nur sie, sondern auch ihre Tochter von Vita in den Bann gezogen wird, führt jedoch in einen emotionalen Strudel…
Wie aus einnehmendem Charisma vereinnahmende Selbstverständlichkeit wird und welches Unheil ihr schwant, wird durch subtile Vorausblicke vorbereitet, die in der Retrospektive von der Ich-Erzählerin Sunday eingeflochten werden. Ihre Erzählstimme zeichnet sich durch eine nuancierte Beobachtungsgabe aus, die jede Abweichung von der Norm mit einer schmerzlichen Akkuratesse registriert.
„Diese Eifersucht war mir schon damals klar gewesen, aber ich hätte nicht sagen können, ob sie meiner Tochter oder Vita galt.“
War Sunday in einem selbstgewählten Käfig gefangen, so scheint es, als hätte die flatterhafte Vita ihr das Türchen geöffnet und sie zu Freiflügen inspiriert. Eine unsanfte Landung lässt sich erahnen, untermalt durch andeutungsreiche Vogelbilder wie etwa das der diebischen Elster, die die vorherigen Bewohner von Vitas Haus gehalten haben.
Von Kuckuckseltern und vom Flüggewerden
Auch der Name der Nachbarin ist sprechend – ist es Vita, diese unvorhersehbare Persönlichkeit, oder das voranschreitende Leben selbst, das Dolly ihrer Mutter zunehmend entfremdet? Die sich im Handlungsverlauf verdichtende Atmosphäre der Beklemmung wird nahezu physisch greifbar, gestützt durch die einzigartige Metaphorik, die Sundays sensorische Wahrnehmungen in Worte gießt. Die von durchdringender Klarheit und poetischer Präzision geprägte Sprache wurde von Sabine Längsfeld behutsam ins Deutsche übertragen.
Durch Lloyd-Barlows Entscheidung, die Geschichte aus Sundays Warte anzulegen, erhalten die Lesenden einen unverstellten Einblick in das Seelenleben einer autistischen Frau. Gleichzeitig vollbringt es dieser Kunstgriff, verwirrende Gefühlshaushalte und soziale Konventionen auf entlarvende Weise zu analysieren. Herausragend dabei ist, dass ihre neurodivergente Sicht das Werk inhaltlich wie stilistisch bereichert, die selbst autistische Autorin dies aber nicht unter ein pathologisierendes Metanarrativ stellt. Mit großer Einfühlsamkeit und psychologischer Tiefe schildert Lloyd-Barlow in ihrem Debütroman, wie zarte Bande des Vertrauens geknüpft und gleichsam durch einen Flügelschlag gekappt werden. All die kleinen Vogelherzen ist ein literarisches Juwel, das zumindest die meisten Menschenherzen nicht unberührt lassen wird.
von Jana Paulina Lobe
Viktoria Lloyd-Barlow
All die kleinen Vogelherzen
Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
Goya 2024
384 Seiten
24,00 Euro
ISBN 978-3-8337-4796-0