CW: Suizidversuche
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„Was könnt’ man alles befehlen, einem wie mir?”
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Franz Xaver Kroetz führt das Publikum in eine vermeintliche Idylle nach Bayern, in Das Nest von Kurt (Valentin Bartzsch) und Martha (Aline Joers), einem jungen Ehepaar Anfang dreißig. Das TiG hat hierfür das ERTL-Zentrum im Bamberger Hafen als hervorragenden Inszenierungsort gewählt. Damit trifft das Alter des Giga-Centers beinahe passend auf die Zeit des Volksstücks, dessen Uraufführung im Jahr 1975 stattfand.
Martha und Kurt leben in Oberbayern und führen ein typisches kapitalistisch-orientiertes Leben zum Ende der Nachkriegszeit: Kurt macht Überstunden als LKW-Fahrer, Martha verdient ein paar Mark durch das Nähen von Krawatten in Heimarbeit dazu – ein astreines Nest in der bürgerlichen Mitte eben. Alle Investitionen für das Kind: „Genehmigt!“ Stefan kommt zur Welt und alsbald gerät das durchkalkulierte (im wahrsten Sinne des Wortes) Leben ins Wanken.
„Du bist ja überhaupt kein Mensch, sondern höchstens ein dressierter Aff‘“
Kurt tritt mit müd‘ geschminkten Augen und blassem Teint auf, die Auswirkungen des Kapitalismus sind ihm bereits ins Gesicht geschrieben. Fein säuberlich entsorgt er auf Anweisung seines Chefs giftverseuchte Flüssigkeit in den nahegelegenen Badesee, in dem die unwissende Martha kurz darauf ihren Stefan badet, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Versagen in der Vaterrolle trifft auf die Suche nach Schuldigen, der Messias an dieser Stelle heißt Gewerkschaft.
Das Ehepaar unterhält und streitet sich in simplem Wortschatz und Satzbau, das Arbeiter*innenmilieu wird auch in der Sprache zum Ausdruck gebracht. Obwohl das Stück in Oberbayern spielt, fällt der Dialekt manchmal ins Fränkische ab, beläuft sich aber überwiegend auf eine reduzierte Mundart, die universell für Dialekt statt Hochdeutsch steht. Der sozioökonomische Habitus wird authentisch transportiert, aber es wäre gewinnbringender gewesen, entweder im Bayerischen zu bleiben oder das Stück konsequent lokal ins Fränkische zu adaptieren.
Und vergib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Die gekonnt starren Bewegungen Bartzsch‘ erinnern an den Stereotyp des überstundenforcierten Arbeitnehmers als Marionette der Unternehmer, sein maschinenartiges Lachen funktioniert wie auf Knopfdruck. Joers glänzt wie gewohnt mit ihrer ausdrucksstarken Mimik als die unterstützende Hausfrau Martha, so wie es sich scheinbar gehört.
So wie wir es vom TiG gewohnt sind, ist die Bühneninszenierung (Denise Leisentritt) äußerst durchdacht – braun-grüne Biederkeit sowohl für das Bühnenbild als auch für die Kostüme. Ton in Ton mit gediegener Klaviermusik, wenn Darsteller*innen die Szenerie abändern. Um die Gedanken der Schauspielenden darzustellen, setzt das Theater Laute aus dem Off ein, die eine deutlichere Introspektion in die Figuren erlauben, teils auch zu viel des Guten sind, allenfalls stimmungsunterstreichend.
„Mir graust vor mir, Martha.”
Franz Xaver Kroetz wirft mit seinem Stück sozioökonomische Fragen in den Raum: Wie steht es um ein gesellschaftliches Konstrukt, das einerseits als ein so sicheres an das Individuum verkauft wird, aber andererseits als ein vom Markt abhängiges derart fragil ist? Dabei verarbeitet der Autor auch die Giftmüll-Enthüllungen aus dem Jahr 1974 im Stück.
Durch Nina Lorenz grandios inszeniert, wirft Das Nest ein neues Licht auf eine noch nicht allzu alte Thematik. Das Nest ist auch heute eben nicht so sicher, wie es scheint. Insbesondere in Zeiten wie diesen ist der Stoff in einigen Belangen aktueller denn je – man bedenke nur die Kosten für ein Kind, siehe Programmheft unter Baby-Erstausstattung mit Tipps des Stern-Magazins.
Wir sollen einen Theaterbesuch an all jene empfehlen, die wir mögen, sagt Bartzsch zum Schluss auf der Bühne. Dem gehen wir gerne nach! Das TiG führt das Stück noch an weiteren Terminen auf: 27. und 28. Februar, 1., 13., 14., 15., 18., 20. März, siehe auch unter https://www.tig-bamberg.de/das-nest.html.
von Miriam Mösl und Michaela Minder




sehr fesselndes, nachdenklich machendes und mitunter auch erheiterndes Stück, in dem man sich dann doch das ein oder andere Mal wiederfindet … ja, ich hatte für meine Tochter auch ein paidi-Bett ;-)… manchmal ist es grotesk, dann wieder erschütternd, in welchem Korsett der Gesellschaft oder eigenen Altlasten sich der Mensch denn so bewegt…. und dann wirkt so manche Szene wieder so sympathisch, da wir doch alle irgendwie ähnlich ticken…. vielleicht…
Während des Stücks hätte man so manchmal eine Stecknadel fallen hören können … aus Betroffenheit? oder Dramatik? oder aus Faszination über die großartige Intensität der schauspielerischen Leistung der beiden Protagonisten? ganz gleich: unbedingt sehenswert! Chapeau!