Ein literarisches Mosaik der Nachkriegszeit
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Gabriele Tergit zeichnet in Der erste Zug nach Berlin ein eindringliches Bild des Nachkriegsdeutschland – eine Zeit voller Brüche, Widersprüche und Hoffnungen. Mit präziser Beobachtungsgabe und einem unaufgeregten Stil nimmt sie die Leser*innen mit auf eine Reise durch eine Stadt im Wiederaufbau.
Der titelgebende Zug ist der Auftakt zu einer Collage aus Begegnungen und Dialogen. An Bord treffen ein junger Journalist, eine Kriegswitwe und ein ehemaliger Soldat aufeinander. Ihre Gespräche beleuchten nicht nur persönliche Schicksale, sondern machen auch die Zeitgeschichte greifbar. Besonders die amerikanische Protagonistin Maud, die in Berlin eine demokratische Zeitung gründet, bietet eine unvoreingenommene Perspektive auf die politischen und gesellschaftlichen Widersprüche der Epoche.
Tergit setzt Sprache meisterhaft ein: Sehr bedacht und pointiert, wechseln sich Deutsch und Englisch ab, um die Fremdheit der Figuren zu unterstreichen. Eine Übersetzung der englischen Sätze findet sich im Anhang des Buches. Nicht unproblematisch ist der Umgang mit rassistischer Sprache, die gelegentlich im Text auftaucht. Die Herausgeberin Nicole Henneberg verzichtet darauf, diese zu glätten, was dem historischen Kontext geschuldet ist und im Buch – im Nachwort – eingeordnet wird, aber auch von heutigen Leser*innen kritisch reflektiert werden sollte.
Mit feiner Ironie entlarvt Tergit nationale Identitätsdebatten. Eine besonders prophetisch anmutende Szene zeigt einen britischen Offizier, der betont: „England is not part of Europe. England is Asian, African, Australian, American but not, not, not European. We, the architects of the German defeat, have a right to our own way of life. We are not going to be forced into Europe. Not we!” Angesichts des heutigen Brexit-Diskurses verleiht dies dem Roman eine unerwartete Aktualität.
Die autobiografische Prägung ist dabei unverkennbar: Tergit, die selbst als Journalistin und Beobachterin des Zeitgeschehens wirkte, lässt ihre Erfahrungen subtil in den Roman einfließen. Nicole Hennebergs Nachwort bietet zudem eine aufschlussreiche historische Einordnung und hebt hervor, dass dies die erste Auflage des Original-Typoskripts ist. Zu Lebzeiten von Gabriele Tergit blieb das Manuskript unveröffentlicht.
Der erste Zug nach Berlin ist ein literarisches Kleinod, das die Widersprüche der Nachkriegszeit greifbar macht und bewegende Figuren zeichnet. Ein Buch für alle, die sich für literarische Annäherungen an das Nachkriegsdeutschland interessieren – und für jene, die in eine bewegende Zeit eintauchen möchten.
von Theresa Mader

Gabriele Tergit
Der erste Zug nach Berlin
btb Verlag 2024
208 Seiten
13,00 Euro
ISBN 978-3-442-77425-8