Was bedeutet es, eine Schwester zu sein?
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CW: Alkoholismus, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit bzw. -missbrauch, Endometriose, physische und psychische Gewalt, Schmerz, Verletzung, Verlust, Tod
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„Eine Schwester ist keine Freundin. […] Ihr seid Teil voneinander, von Anfang an.“
Vor einem Jahr ist Nicky Blue verstorben und ihre drei Schwestern Avery, Bonnie und Lucky bleiben mit ihrem Schock und ihrer Trauer zurück. Doch die verbliebenen jungen Frauen können sich gegenseitig keinen Trost spenden, zu groß klafft das Loch des Verlustes zwischen ihnen. Seit dem tragischen Ereignis haben sie sich deshalb mehr als nur emotional auseinandergelebt, denn aus dem gemeinsamen Zuhause in New York hat es sie in die Welt hinaus nach Los Angeles, London und Paris verstreut. Aber wie macht man weiter, wenn man einen Teil der Familie und damit einen Teil von sich selbst verloren hat? Inmitten ihrer komplexen Gefühlswelten drohen die drei Schwestern schneller die Kontrolle über ihre mühevoll aufgebauten Leben zu verlieren, als ihnen lieb ist.
Der multiperspektivische Roman erzählt abwechselnd von Avery, Bonnie und Lucky, wodurch nach nur wenigen Seiten die zentralen Konflikte der Handlung klar werden. Wenngleich alle drei Frauen den gleichen Schmerz erleben, geht jede von ihnen sehr unterschiedlich mit ihren Gefühlen um. Da wäre zum einen Avery, die älteste Schwester, die nach einer schweren Zeit des Drogenmissbrauchs krampfhaft versucht, sich an ihrem neuen, augenscheinlich perfekten Leben festzukrallen. Zum anderen ist da Bonnie, die nicht nur vor ihrer Trauer flieht, sondern auch von ihrem großen Traum, sich als Profiboxerin zu beweisen. Lucky wiederum fühlt sich von ihrem Job als Model, den sie bereits in Jugendjahren begonnen hat, rastlos, getrieben und überfordert.
Fliegende Fetzen, dahinfliegende Seiten
Neben all den Unterschieden legen sie jedoch allesamt, wie schon die Protagonistinnen in Mellors’ erfolgreichem Debütroman Cleopatra & Frankenstein, ein hohes Maß an selbstzerstörerischen Tendenzen an den Tag, die nicht nur sie selbst, sondern auch die Menschen in ihrem Umfeld immer wieder verletzen. Das macht die Lektüre teils schmerzhaft und emotional, zuweilen jedoch, ebenso wie die häufig fehlende Kommunikation zwischen den Schwestern, auch etwas frustrierend. Diejenigen Leserinnen, die sich auf diese Konstellation einlassen können und sich nicht an fliegenden Fetzen stören, werden allerdings im Laufe des Buches noch belohnt.
Je besser man die Schwestern und ihre Eigenheiten kennenlernt, desto berührender und mitreißender wird die Handlung, desto mehr eilen die Seiten nur so vorüber und man fiebert mit, während die gebrochenen Einzelkämpferinnen versuchen, sich selbst und einander (wieder) zu finden. So entfaltet Blue Sisters mit der Zeit einen immer stärkeren Lesesog, der sich höchstens unterbrechen lässt, um die zahlreichen besonderen Textstellen mit Post-its zu markieren. Der gelungene Schreibstil besticht mit Tiefgang, aber auch mit Modernität und Leichtigkeit, was perfekt zu der komplexen Coming-of-Age-Erzählung passt. Deshalb sei an dieser Stelle auch auf die Arbeit der Übersetzerin Lisa Kögeböhn verwiesen, die mit diesem Roman wieder einmal ihr sprachliches Feingefühl und Geschick unter Beweis stellt.
Besonders jedoch überzeugt der Roman mit seiner vielschichtigen Verarbeitung des Themas Schwesternschaft in einer dysfunktionalen Familienstruktur, aber auch im Kontext der modernen Gesellschaft. Coco Mellors gelingt es mit ihrem Werk nicht nur, familiären Zusammenhalt und Einsamkeit miteinander in Beziehung zu setzen, sondern ebenso die Höhen und Tiefen weiblicher Adoleszenz und Verbundenheit auf überzeugende Art und Weise zu erkunden. Am Ende bleibt so, neben den Folgen der erlebten emotionalen Achterbahnfahrt, vor allem das Gefühl zurück, „dass es keine Schwäche war, als Mädchen unter Mädchen zu sein, […] sondern eine Stärke, die beste und beglückendste Stärke auf Erden“.
von Alicia Fuchs

Coco Mellors
Blue Sisters
Übersetzt von Lisa Kögeböhn
Eichborn 2024
400 Seiten
24,00 Euro
ISBN: 978-3-8479-0186-0