Wildwuchs Theater – Mensch Mensch, Ärger Ärger
Wildwuchs Theater – Mensch Mensch, Ärger Ärger

Wildwuchs Theater – Mensch Mensch, Ärger Ärger

„Keine für niemand und jeder für sich“


Wie im Flug vergingen die 70 Minuten voller Assoziationen und Emotionen, die das Wildwuchs-Ensemble in den Raum mimte, klagte, lachte und schwieg. Mensch Mensch, Ärger Ärger glänzte durch die vier Schauspielenden, die musikalische Umrahmung sowie Sebastian Stahls Skript und Regie.

Vier farbig umhüllte Gestalten betreten die Bühne und ziehen die Zuschauenden bereits während der ersten Minuten choreografierten Schweigens in ihren Bann. Sie spielen ein Spiel. Aber ist das wirklich ein Spiel oder ist das schon längst die Realität? Vom imaginären Spielbrett springt das Ensemble immer wieder in reale Situationen, die in ihrer Stimmung nicht gegensätzlicher sein könnten. Mensch Mensch, Ärger Ärger spielt mit Ekel, Wut, übertriebener Freude, nur um diese Emotionen schon im nächsten Moment wieder zu hinterfragen. Nichts ist sicher in diesem Spiel, das alle nur für den eigenen Vorteil zu spielen scheinen.

„Kurz vor Häuschen gefallen“

Zunächst wird eine Partie Mensch ärgere dich nicht mit übergroßen Würfeln angedeutet – und alle ärgern sich natürlich doch, bis das Setting von Zeit zu Zeit mit kurzen Sequenzen alltäglicher Belanglosigkeit verschwimmt. Die vier Figuren essen gesittet zu Abend, erleben ruhelose Nächte oder finden sich in einer familientherapeutischen Sitzung wieder, die zunächst durch den schmierigen Therapeuten beängstigend übergriffig wirkt. Vor wenigen Augenblicken nämlich waren sie noch mitten im Krieg, schrien sich Befehle zu und luden ihre Waffen.
Immer wieder kehren die vier Figuren zur Kriegsthematik zurück und damit in ein Leben, das ganz anders ist als die unbeschwerte Fröhlichkeit, die die Grausamkeit des Kriegs rahmt. Manche Szenen lassen sich auch nur assoziativ greifen: Ein paar chorisch gesprochene, gesungene und tänzerische Einlagen lockern die Stimmung jeweils für einen vagen Moment, der sich schon wenige Sekunden später wieder auflöst.

Lediglich mit ihren bunten Kapuzenmänteln und vier Würfeln ausgestattet, gelingt es dem Ensemble, eine beachtliche Palette an Emotionen zu transportieren, die in ihrer Kombination vor allem eines erreichen: ein bedrückendes, beklemmendes Gefühl, das auf positivste Weise unangenehm ist. Mensch Mensch, Ärger Ärger macht eindrücklich klar, wie viel im Krieg tatsächlich auf dem Spiel steht und wie leicht es im Alltag ist, wegzusehen. Doch während des Stücks, das keinen einzigen Szenenwechsel beinhaltet, wird dem Publikum kein Ausweg angeboten. Die kurzen Ruhepausen steigern die Sogwirkung durch die eindringliche Mimik der vier Spieler*innen nur noch mehr und es besteht keine Möglichkeit, der emotionalen Bedrängnis zu entkommen.

Jede der vier Spielfarben wird auf den Punkt gespielt und ist unglaublich vielfältig angelegt. Eugeniya Ershova, Kristina Greif, Milan Lukaschek und Daniel Reichelt agieren dennoch als eine Einheit, deren Teile sich gegenseitig kunstvoll ergänzen und ein beachtlich formbares Gesamtbild ergeben. Jedes Detail stimmt, sodass die Emotionen aus dieser Wundertüte ganz gezielt wirken, sei es in starken Monologen, Dialogen oder stumm choreografierten Szenen. Die Schauspielenden wechseln dabei ihre Person, ihr Gender sowie ihre gesamte Identität so fluide und subtil, dass die Übergänge kaum bemerkbar sind, was die Szenen eigenartig leise macht und gerade deshalb umso lautere Aufschreie beinhaltet, die stellenweise überraschen. Die überzeichneten positiven Momente machen die breiten Verdrängungs- und Beschönigungsmechanismen der Masse deutlich, die sich mit Kriegsgräueln nur aus einem sicheren Abstand beschäftigt und in den entscheidenden Momenten nicht als Gemeinschaft auftritt, sondern aus Einzelkämpfer*innen besteht. Viele der Szenen sind doppeldeutig angelegt – Freude und Leid liegen wie im echten Leben so nahe beieinander, dass sich die Mühe einer differenzierten Betrachtung einzelner Momente in einer reizüberfluteten Gesellschaft kaum mehr lohnt. Oder etwa doch?

Zufallsprinzip

Immer wieder kehrt das Ensemble zum Würfelspiel zurück und stellt sich Fragen zur Zufälligkeit des menschlichen Daseins. Wie definiere ich Gerechtigkeit in Konfliktsituationen? Wo wäre ich, hätte das Schicksal eine andere Zahl für mich gewürfelt? Und bin ich nur eine Spielfigur in meinem Lebensentwurf? Das Wildwuchs-Theater spielt mit dieser Willkür des Lebens, zeigt aber auch mit dem Finger auf bewusste Entscheidungen, die jede*r nur im eigenen Interesse trifft.

In der Darbietung selbst wird jedoch gar nichts dem Zufall überlassen: Die dramaturgische Choreografie ist eine zielgerichtete Komposition starker Assoziationen, die vielleicht kein zusammenhängendes Handlungsbild ergeben, dafür aber umso eindrücklicher sind – gerade auch aufgrund der herausragenden schauspielerischen Leistung des Ensembles.
Nur weil etwas schwer in Worte zu fassen ist, tut das der Aussagekräftigkeit eines Theaterstücks keinen Abbruch; das macht diese Inszenierung auf ihre eigene Weise deutlich. Besonders der Einsatz des Lichts sowie Dominik Tremels musikalische Kulisse unterstützen die Vielseitigkeit der transportierten Gefühle – von der Angst im Kriegsgefecht bis hin zum beschaulichen Familienabend wird jeder Ton getroffen.

Mensch Mensch, Ärger Ärger plättet und schreit an, doch wer genau hinhört und hinsieht, entdeckt die feinen Nuancen einer politisch und gesellschaftlich gefärbten Kritik, die nie ins Plumpe verfällt, sondern kluge Anregungen gibt. Das Publikum wird mit der Warnung konfrontiert, nicht wegzuschauen, sondern auch beklemmenden Gefühlen Raum zu geben und den Blick zu weiten für die bitteren Realitäten dieser Welt – auch wenn es wehtut.

Wer für einen intensiven Abend voller emotionaler Überraschungen bereit ist, sollte sich dieses bemerkenswerte Spiel im Spiel unbedingt noch am 18., 30. oder 31. Mai um 20 Uhr im Palais Schrottenberg ansehen.

von Theresia Seisenberger

Fotos: Alexander Roßbach

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