„Über der Stadt, auf der Hügelkuppe, stand einst der steinerne Engel.“
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CW: körperliche Gewalt, Missbrauch von Kindern, Tod
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Altwerden ist nichts für Feiglinge. Das muss auch die 90-jährige Hagar Sipley im Roman Der steinerne Engel von Margaret Laurence lernen. Aus der lebensfrohen und abenteuerlustigen Protagonistin ist eine alte Frau mit zunehmender Demenz geworden, die gegen ihren Willen im Pflegeheim untergebracht werden soll. Sie gesteht sich ihre Pflegebedürftigkeit jedoch nicht ein, leugnet ihre eigenen Beschwerden konsequent und rebelliert gegen die gutgemeinten Maßnahmen ihrer Kinder.
„Können sie mich zwingen? Ich sehe sie abwechselnd an und begreife, dass sie sich gegen mich verschworen haben.“
Das Buch wird auf verschiedenen Zeitebenen erzählt. Es beinhaltet eine umfangreiche Reflexion über das ereignisreiche und dramatische Leben von Hagar. Der Handlungsverlauf nimmt schnell Fahrt auf und es ist von Anfang an gut möglich eine Verbindung zur Hauptfigur aufzubauen, auch wenn sie die gesamte Zeit über unsympathisch bleibt.
„Ich kann doch nicht mein Haus im Stich lassen, meine Sachen. Das ist gemein – das ist gemein von euch – oh, wie könnt ihr nur?“
Ihre Sturheit und ihr Egoismus halten die Leser*innen immer etwas auf Distanz, wirken aber äußerst authentisch und menschlich. Durch den Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart bekommt der Roman eine interessante Dynamik, die im zweiten Teil jedoch für etwas Verwirrung sorgen kann, durch das sehr gelungene Ende aber gut aufgefangen wird. Kritsch betrachtet werden kann, dass sich die Handlung teilweise in unnötigen, wenn auch sprachlich einfallsreichen Details verliert und die Reflexionen streckenweise oberflächlich bleiben. Besonders in Bezug auf die Kindheit und die Erziehung der Protagonistin wäre eine kritischere Auseinandersetzung wünschenswert. Durch die Ich-Erzählerin werden persönliche Ansichten und Erfahrungen in den Mittelpunkt gestellt und es wird kein Bezug auf strukturelle und gesamtgesellschaftliche Probleme genommen. Auch Privilegien durch finanzielle Ressourcen werden nicht ausreichend thematisiert.
Die Sprache ist insgesamt sehr zugänglich und ermöglich einen angenehmen Lesefluss. Wenige Stellen klingen etwas hölzern, wobei unklar bleibt, ob es an der Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark liegt oder an der Tatsache, dass das Original von 1964 ist. Der geschickt eingeflochtene Humor lockert den Roman trotz des schweren Themas angemessen auf und hilft dabei, Hagars Handlungen nachzuvollziehen. Positiv hervorheben lässt sich die gelungene Verknüpfung zwischen dem Titel und der Geschichte. Die christlichen Anspielungen, die das Werk durchziehen, sind sehr ansprechend und inhaltlich gut platziert, ohne aufdringlich zu sein.
Der steinerne Engel ist ein lesenswertes Buch, da es einen wertvollen Beitrag dazu leistet, Lebensrealitäten alter und dementer Menschen sichtbar zu machen und zum Nachdenken über die eigene Haltung zur Verantwortung gegenüber pflegebedürftigen Angehörigen anregt.
von Jasmin Fuchs

Margaret Laurence
Der steinerne Engel
Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark
Eisele 2020
352 Seiten
22,00 Euro
ISBN 9783961610921