“Sterne bringen zum Nachdenken.”
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CW: Angststörung, Depressionen, Kindesmisshandlung, Tod, Trauma
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Man stellt sich vor, dass man mitten im Ozean ist: Es gibt nur das Meer, Sterne, Himmel und die Crew des Schiffs. Man ist ganz allein außer der eigenen Familie, und vor den Augen erstreckt sich nur „die ungebrochene Grenze von Wasser und Himmel“. Eine Seereise kann in dieser Weite des Meeres Raum für Reflexion bieten, aber auch die Ungewissheit darüber, was als Nächstes kommt, in Angst umschlagen lassen. Michael und Juliet machen eine solche Reise. Sie sind verheiratet und haben zwei Kinder. Charakterlich unterscheidet sich das Paar sehr: Michael ist stets unbedarft und nachdenklich wie ein Philosoph, während Juliet mehr realitätsbezogen und umgeben von Sorgen ist. Sie leidet bereits ihr ganzes Leben an Depressionen. Michael schlägt vor, gemeinsam mit den Kindern eine Schiffsreise für ein Jahr zu machen, um aus ihrer bisherigen Welt auszubrechen. Wie Michael es sich vorgestellt hat, hilft die Reise Juliet, ihren Kopf zu leeren. Ihre Sorgen, die früher in ihrem Leben eine große Rolle gespielt haben, werden in der Natur nebensächlich. Allmählich verstehen sich die beiden sogar besser als beim Zusammenleben zu Hause. Gleichzeitig entfernen sie sich jedoch voneinander, da ihre Ideale bezüglich des Lebens oder der Familiengestaltung voneinander abweichen.
„Wann hat denn Ihr Vater das letzte Mal einen ganzen Vormittag damit verbracht, Ihnen zuzuhören?“
Unter uns das Meer handelt nicht davon, wie faszinierend die Seereise ist, sondern von der grundsätzlichen Bedeutung der Familie oder Familienbeziehungen, des Ehepaars, der Kindererziehung und des Lebens – Liebe gehört auch dazu.
Michael ist eine abenteuerliche Person – Juliet sehnt sich nach Sicherheit. Der Roman beschreibt eindrücklich, wie Depressionen Juliets Leben bestimmen. Er arbeitet die Hilflosigkeit und Fassungslosigkeit heraus, die sie überkommt, sobald es Schwierigkeiten gibt. Sie sucht Rat bei Michael. Dieser versucht während der Reise mehrmals, Juliet seine Perspektive und Herangehensweise näher zu bringen: „Kann man ‚vor seinen Problemen davonlaufen?‘ Natürlich nicht. Man läuft bloß von einem Problem in die Arme eines anderen Problems.“ Am Ende der Erzählung bleibt man nachdenklich zurück. Juliet erreicht ein für sie neues Niveau der Autonomie, doch zu welchem Preis?
Über diesen Punkt könnten die Leser*innen über Moral und das Leben nachdenken oder verwirrt sein, denn die Geschichte ist auf zirkuläre Weise dargestellt. Außerdem ist Juliet mitten in der Geschichte schlagartig wieder an Land und liest Michaels Tagebuch, während die Leser*innen noch über die Seereise nachdenken. Der Roman ist empfehlenswert, aber es lohnt sich, geduldig bis zum Ende zu bleiben.
von Si hyun Joo

Amity Gaige
Unter uns das Meer
Aus dem Englischen von André Mumot
Eichborn Verlag 2020
384 Seiten
22,00 Euro
ISBN 978-3-8479-0051-1