„60 verpasste Jahre. 33 gelebte Jahre.“
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CW: Autounfall, Demenz, Tod
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Jedes Jahr stirbt eine große Zahl an Menschen im Straßenverkehr. Im Jahr 1963 waren es in der Schweiz 1330. Zora del Buono gibt uns in ihrem autofiktionalen Roman Seinetwegen zu einem Menschen dieser Menge einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte. Sie war damals acht Monate alt, als ihr Vater mit 33 Jahren an den Folgen eines Autounfalls starb.
„Eine vaterlose Kindheit bedeutete für mich nichts anderes, als mit Mama allein zu sein.“
Die Erzählerin wächst vaterlos auf und weiß kaum etwas über diesen Mann, der der Sohn ihrer Großeltern, der Ehemann ihrer Mutter und ihr Vater war. Zum Zeitpunkt des Unfalls war sie zu jung, um sich an ihn zu erinnern, und da sie den Schmerz in den Augen der Mutter nicht ertragen konnte, mied sie das Gespräch über ihren Vater.
„Ein lebendiger Toter, der ihn ein Leben lang begleitet hat?“
Sechzig Jahre später begibt sich die Erzählerin seinetwegen auf die Suche nach Antworten auf die Frage, was der Unfall bedeutet hat – für ihn, für die Familie sowie für den Unfallverursacher und Töter ihres Vaters, von dem sie anfangs nur die Initialen kennt. Irgendwo auf der Strecke zwischen „Uznach, Näfels, Kaltbrunn“ ist E.T. in einer Kurve mit seinem knallroten Chevrolet in den lindgrünen VW Käfer hineingerast. Seinetwegen ist ihr Vater gestorben. Hat ihn diese Schuld wie ein „lebendiger Toter“ sein Leben lang begleitet? Im Verlauf der Recherche wird aus dem todbringenden Phantom E.T. immer mehr ein Mensch und die Erzählerin sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie über ihn fast mehr weiß als über ihren Vater. Wie geht man damit um, wenn ohne Erinnerungen nur noch Gerichtsakten und Eckdaten sowie verbliebene Gegenstände und Fotos auf die 33 Jahre seines Lebens hinweisen?
Mit Seinetwegen deckt Zora del Buono nach Die Marschallin ein weiteres Kapitel Familiengeschichte auf. Neben dem Autounfall des Vaters und dem Versuch, die Bilder von ihm zum Leben zu erwecken, gibt die Autorin auch anderen Schicksalsschlägen einen Platz und verwandelt weitere statistische Zahlen in Namen.
Die unmittelbare Form des Romans holt die Leser*innenschaft ganz nah an die Handlung heran: Durch assoziative Gedankengänge, thematisch passende Gespräche mit Freund*innen im Kaffeehaus und Passagen aktiver Recherche sowie durch Listen, Dokumente und Ausschnitte aus literarischen Texten entsteht eine Erzählweise, die das Gefühl gibt, selbst bei der Nachforschung dabei zu sein. Familienfotos, lebhafte Erinnerungen und (erklärte) italienische sowie schweizerische Ausdrücke und Redewendungen lassen tief in diese Familiengeschichte eintauchen – fast so, als würde man selbst dazugehören.
Seinetwegen ist eine berührende Aufarbeitung der Geschehnisse hinter einem 60 Jahre langen, ungebrochenen Schweigen.
von Hannah Bockemühl

Zora del Buono
Seinetwegen
C.H. Beck 2024
204 Seiten
23,00 Euro
ISBN 978-3-406-82240-7