„Herr Jandl hat mein Herz am Bandl“
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CW: Altern, Beleidigungen, Sex
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Mit Ernst Jandl zum 100.,herausgegeben von Christof Bultmann et al., erscheint zu Jandls heutigem Geburtstag eine würdige wie großartige Hommage an den österreichischen Schriftsteller, der besonders für seine Lyrik bekannt und geschätzt ist. Jandls Dichtung ist etwas ganz Besonderes, sie feiert das Spiel mit der Sprache, scheut aber nicht vor dem Abgründigen zurück.
Wer auf die absoluten All-Time-Favourites wie ottos mops oder schtzngrmm hofft, sucht hier vergeblich. Stattdessen präsentieren 20 Luchterhand-Autor*innen ihre Lieblingsgedichte aus Jandls Œuvre. Perfekt, um auch die weniger bekannten Texte kennenzulernen. Jede*r Autor*in kommentiert das ausgewählte Gedicht so unterschiedlich, bereichernd und persönlich wie Jandls Werk selbst. So schreiben beispielsweise Melitta Breznik, Angelika Overath und Daniel Wisser Gegengedichte zu ihrem ausgewählten Text und setzten ihn so in einen neuen Kontext. Sie offenbaren, wie reich und voller Möglichkeiten Jandls Sprache ist, die entdeckt und weiterentwickelt überraschende Lesarten hervorbringt.
Christiane Neudecker dagegen nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch ihr Leben. Wie sie immer wieder auf Jandl trifft, wie er sie im Hintergrund begleitet und in verschiedenen Lebensphasen wieder an die Oberfläche des Bewusstseins tritt. „Es gibt sie: die Gedichte, die bleiben. Die man immer wieder hervorkramen und gegen die Sonne halten kann. Je nach Lichteinfall erkennt man dann Neues: andere Schichten, die durchschimmern, Risse in der früheren Deutung, vorher unbemerkten Schattenwurf. Aber natürlich sind es nicht die Schatten, die sich verändern, sondern wir.“ Auf die ganz eigene, aber immer lohnende Weise setzt jede*r Autor*in Jandl ein Denkmal, das zum (Wieder)Entdecken und Auseinandersetzen einlädt.
Schluss mit dem Male Gaze
Bei manchen Gedichten ist die Auseinandersetzung dringender nötig als bei anderen: wegen des Male Gaze. Wenn Jandl die Züge der Zeit gerade am Äußeren von Frauen aufzeigt, die von männlichen Blicken ob ihrer Begehrbarkeit taxiert und bewertet werden, wird die Frau hinter eine Funktion als reines Lustobjekt zurückgedrängt. Doch auch wenn man Werk und Autor trennt, ist ein gewisser Alter-Weiser-Mann-Flair nicht zu überlesen, der eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit dem Text so wichtig macht.
Dass Züge der Zeit wieder kritisch einfangen wird, ist Angelika Overath zu verdanken. Sie tauscht in ihrem Gegengedicht den männlichen Blick gegen eine neutralere Stimme, die das abwertende Gebaren nicht übernimmt, sondern in ein Bild von Stärke und Humor verwandelt. Somit erteilt sie mit ihrem literarischen Kontrapunkt nicht nur dem negativen Blick aufs Altern, sondern auch dem Male Gaze die dringend nötige Absage.
Was Sprache und Wortwitz angeht, sind Jandls Gedichte unübertroffen. Wenn zusätzlich die Texte kritisch hinterfragt und quasi nebenbei neue literarische Glanzlichter entfacht werden, bleibt nur eines zu sagen: Unbedingt lesen!
von Lavinia Richter

Christof Bultmann, Regina Kammerer, Martina Klüver und Miriam Spinrath (Hrsg.)
Ernst Jandl zum 100. Lieblingsgedichte, ausgewählt und kommentiert von Luchterhand-AutorInnen
Luchterhand 2025
176 Seiten
18,00 Euro
ISBN 978-3-630-87806-5