Kann eine abwesende Mutter eine Lebensbegleiterin sein?
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CW: Drogenkonsum, Essstörung, selbstverletzendes Verhalten, Tod
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Der Debütroman Perlen von Siân Hughes erzählt die Geschichte der achtjährigen Marianne, deren Leben vom spurlosen Verschwinden ihrer Mutter geprägt ist. Die Familiengeschichte spielt in Cheshire. Dort wuchs die Autorin auf und arbeitet heute als Buchhändlerin. Die Figuren begleiteten Hughes bereits seit ihrer Jugend. Als sie sich viele Jahre später für die Veröffentlichung der Geschichte entschied, wurde es in England zum Überraschungserfolg und erhielt eine Nominierung für die Longlist des Booker Prize 2023. Dank Tanja Handels erschien nun 2025 die deutsche Übersetzung.
„Ich hatte, blöd und unachtsam, meine Mutter verloren.“
Perlen zeichnet das Leben der Protagonisten Marianne nach – vom Kindes- über das Jugend- bis ins Erwachsenenalter. Mit zunehmendem Alter gewinnt Marianne ein Verständnis für ihre eigene Biografie und lernt, die Handlungen ihre Mutter nachzuvollziehen. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Mutterschaft reflektiert sie ihre Erfahrungen und ihre familiären Beziehungen – immer auf der Suche nach einem eigenen Platz in der Welt. Sie ringt um Identität und merkt, wie sehr dieser Verlust jeden Bereich ihres Lebens einnimmt. Die Frage ist nicht, was fehlt, sondern was bleibt.
„Aber kein Mensch hat es verdient, nach den schlimmsten fünf Minuten seines Lebens beurteilt zu werden, auch nicht, wenn diese fünf Minuten die letzten sind.“
Zwischen melancholischen und sehnsuchtsvollen Passagen verbergen sich Trost und Hoffnung sowie kluge Reflexionen über gesellschaftliche Fragestellungen. So bindet Hughes zum Beispiel Überlegungen zur Rolle der Frau gewinnbringend in die Geschichte ein. In kurzen Kapiteln werden von verschiedenen Episoden aus Kindheit und Jugend in variierender Ausführlichkeit erzählt und spiegeln so Mariannes Zerrissenheit. Die Zeitsprünge und Rückblenden verdeutlichen die Bemühungen der Familie, die Lücken in ihren Herzen durch Erinnerungen zu füllen. Geschickt werden Themen wie Freundschaft und Beziehungen, aber auch Trauer, Schuld und Abschiedsschmerz entfaltet.
„Ich hatte die Aufgabe, ihr das Lächeln beizubringen. Da blieb mir nichts anderes übrig, als selbst zu lächeln.“
Eine besondere Stärke des Romans liegt in der äußerst authentischen und ansprechenden Darstellung des Vaters von Marianne, welcher nicht nur ein großer Sympathieträger ist, sondern auch durch seine Vielschichtigkeit überzeugt. Er bemüht sich stets um seine Kinder, ohne aus dem Blick zu verlieren, dass er die Lücke in ihrem Leben nie vollständig ausfüllen wird. Gerade weil er nicht allen Herausforderungen gewachsen ist, wirkt er nahbar und menschlich.
„Es ist wirklich schwierig, auf gute Ideen zu kommen, wenn man traurig ist. Später dann, wenn man nicht mehr so traurig ist, liegen die Ideen scheinbar auf der Hand […]. Man muss daran glauben, dass das, was man tut, Bedeutung hat.“
Die leisen und feinfühligen Worte passen ausgesprochen gut zur Geschichte und den einzelnen Figuren. Sie transportieren die Verwundbarkeit direkt in die Herzen der Lesenden. Ausführliche Naturbeschreibungen machen die einzelnen Szenen lebendig und erzeugen ausdrucksstarke Bilder im Kopf. Teilweise verliert sich die Autorin leider in Details, welche besonders zu Beginn des Romans von der Handlung ablenken. Die hohe sprachliche Qualität verleitet jedoch zum Weiterlesen. Der zweite Teil ist etwas langatmig, kann jedoch mit einem gelungenen Ende auftrumpfen. Das Buch ist durchdrungen von zahlreichen schönen Anspielungen auf den Buchtitel, welche sich teilweise auch in dem schlichtem Buchcover wiederfinden. Positiv hervorzuheben sind auch die kleinen Gedichte am Kapitelanfang, welche in der Originalsprache abgedruckt sind. Das Buch ist empfehlenswert für alle, die gern leise und atmosphärische Bücher mögen, die durch viel Tiefgang und filigran gestaltete Charaktere überzeugen.
von Jasmin Fuchs

Siân Hughes
Perlen
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Dumont 2025
272 Seiten
23,00 Euro
ISBN 9783755800088